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Mittwoch, 2. Juli 2014, 14:27 Uhr

15000 Sahnehäubchen

In Schleswig-Holstein dürfte der 1. Juli 2014 als schwarzer Tag in die Geschichte des geförderten Wohnungsbaus eingehen.

Arbeiter im Vordergrund, dahinter ein Wohnturm des Herold-Centers.

15082 Wohnungen sind in Schleswig-Holstein zum 1. Juli aus der Belegungsbindung gefallen - alleine 574 in Norderstedt (Foto: Infoarchiv).

Infoarchiv Norderstedt | Auf Schleswig-Holstein rollt eine Welle von Mieterhöhungen zu. Das jedenfalls befürchtet der Deutsche Mieterbund mit Blick auf Änderungen im Wohnraumförderungsgesetz (SHWoFG) des Landes. Zum Stichtag 1. Juli fallen nicht nur 15000 Wohnungen aus der Belegungsbindung - wie auch die verbleibenden Sozialwohnungen dürfen sie nun regelmäßig verteuert werden.

Zwei Wohnhäuser, in unterschiedlicher Entfernung und unterschiedlichem Winkel.

Wohnhäuser im Norderstedter Stadtteil Garstedt (Foto: Infoarchiv).

Am Anfang war eine Fehleinschätzung. Weil der Bedarf nach günstigem Wohnraum stieg, die Wohnungsgesellschaften aber immer seltener dazu bereit waren, Sozialwohnungen zu bauen, hatte Ralf Stegner* (SPD) Ende 2007 eine Idee. „Es wäre falsch“, kündigte der damalige Innenminister die Gesetzesänderungen an, „wollte man Wohnungsunternehmen über ein halbes Jahrhundert und länger vorschreiben, welches Mieterklientel in den Wohnungen leben soll“. Flexibler sollte das Gesetz werden, Anreize für Investoren schaffen. Also ließ Stegner die zuvor bis zu 70 Jahre währende Bindung der Sozialwohnungen rückwirkend bei 35 Jahren deckeln und erlaubte begrenzte Mieterhöhungen auch für die weiterhin gebundenen Wohnungen. 2009 trat die Änderung in Kraft, am gestrigen 30. Juni endete die Bestandsgarantie für die Altmieten.

Sozialer Wohnungsbau in Norderstedt

 

Auch in Norderstedt sind die Änderungen im SHWoFG deutlich zu spüren: Alleine 574 Sozialwohnungen kippten hier zum 1. Juli 2014 vorzeitig aus der Belegungsbindung - etwa ein Viertel des gesamten Bestandes. Seit dem Jahr 2000 sind sogar fast die Hälfte aller geförderten Wohnungen weggefallen und bis 2018 wird ihre Zahl auf nur noch 1.000 abschmelzen.

 

Dem stehen bislang kaum neue Projekte entgegen: Während in Garstedt, Norderstedt-Mitte und Friedrichsgabe insgesamt rund 180 neue Sozialwohnungen geplant sind, wird die Belegungsbindung für 100 weitere Wohneinheiten in der Waldstraße für einige Jahre verlängert.

 

Vor diesem Hintergrund hat die Norderstedter LINKE ihre Forderung nach einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft erneuert. Außerdem will DIE LINKE durchsetzen, dass künftig in jeden B-Plan die Verpflichtung aufgenommen wird, 30 Prozent Sozialwohnungen zu bauen. CDU und FDP haben dieser Quote bislang nur für den Geschoss-Wohnungsbau zugestimmt.

Die Folgen sind verheerend: Nicht weniger als 15082 Wohnungen sind mit Ablauf des gestrigen Tages vorzeitig aus der Belegungsbindung gekippt, landesweit ist der Bestand an geförderten Wohneinheiten damit erstmals seit Jahrzehnten unter die 50.000er-Marke gesunken. Dabei wäre das Gegenteil nötig: Mindestens 120000 Sozialwohnungen bräuchte es nach Einschätzung des Mieterbundes, um in Schleswig-Holstein einen nennenswerten Dämpfungseffekt auf den angespannten Wohnungsmarkt auszuüben. Weil Stegner aber regeln ließ, dass künftig auch die weiterhin gebundenen Sozialwohnungen alle drei Jahre um bis zu 9 Prozent verteuert werden dürfen, rolle stattdessen eine regelrechte „Mieterhöhungswelle“ durch Schleswig-Holstein. Dass dabei Deutschlands größtes Wohnungsunternehmen, die von einer Londoner Investorengruppe gesteuerte Deutsche Annington, als erstes auf den Plan trat, wundert Jochen Kiersch wenig: „Nach unserer Einschätzung sind es in besonderem Maße auch die Finanzinvestoren, denen die Gesetzesänderung in die Hände gespielt hat“, sagt der Landesgeschäftsführer des Mieterbundes. Die nämlich hätten bei Wohnungsdeals seit dem Jahr 2000 „einen großen Teil der alten Sozialwohnungen mit gekauft und dürften Herrn Stegner auf ewig dankbar sein, dass sie jetzt endlich die Mieterhöhungsspielräume haben, die dem Geschäft das Sahnehäubchen aufsetzen.

Straßenschilder in der Heidbergstraße

Auch in der Heidbergstraße und dem angrenzenden Malenter Weg sind zum 1. Juli 48 Wohnungen aus der sozialen Bindung gekippt (Foto: Infoarchiv).

Dabei hatte der ehemalige Minister genau die eigentlich ausgeschlossen: „Stegner rechnet aufgrund dieses Systemwechsels nicht mit nennenswerten Mietpreissteigerungen“, verlautete es 2007 aus dem Innenministerium, „denn landesweit (…) liegt die Nettokaltmiete des frei finanzierten Wohnungsbestandes nur um 42 Cent je Quadratmeter Wohnfläche über der Miete öffentlich geförderter Wohnungen.“ Das ist zwar richtig, ignorierte allerdings schon damals die großen Unterschiede im Land. Während es in einigen ländlichen Regionen noch Leerstände und ein ausreichendes Angebot an günstigem Wohnraum gibt, leiden die Landeshauptstadt, die Insel Sylt und der Ballungsraum rund um Hamburg unter einer Wohnungsnot mit zügig steigenden Mietpreisen. Hier ist der Spielraum für die Verteuerung von Sozialwohnungen enorm. Und hier ist schon zum 1. Juli die Miete Tausender Wohneinheiten angehoben worden.

Hier eine Reihe Bilder und Grafiken zum Thema Sozialwohnungen.

Von einem Ende der „Institution Sozialwohnungen“ könne dennoch keine Rede sein, betont Ministeriums-Sprecher Ove Rahlf. Zwischen 2009 und 2014 seien geförderte Wohnungen gegen jede Teuerung geschützt gewesen, ab heute nun erlaube das SHWoFG „Mieterhöhungen entsprechend dem auch sonst üblichen System bei Neuförderungen.“ Außerdem, so Rahlf weiter, zeige sich bei über 5000 seit 2009 geförderten Mietwohnungen, dass die gesetzlich vorgenommenen Änderungen „den prognostizierten Aufschwung zur Folge hatten“. Während Rahlf die 2013 von Innenminister Andreas Breitner (SPD) angestoßene „Offensive für Bezahlbares Wohnen“ als zusätzlichen Impulsgeber bezeichnet, sieht Kiersch darin vor allem Blendwerk: „Das Geld ist schon von der Vorgängerregierung bereitgestellt worden“, sagt er, das Volumen der Fördermittel sei noch nicht einmal aufgestockt worden. Weil Breitner zeitgleich höhere Mietenstufen zugelassen und einen umstrittenen, zweiten Förderweg eingeführt habe, exekutiere das Innenministerium „ganz überwiegend die Wünsche der Wohnungswirtschaft“. Um die Wohnungsnot im Land ernsthaft anzugehen, müssten künftig weitere 5000 Sozialwohnungen fertiggestellt werden – pro Jahr.

Der Artikel erschien in einer kürzeren Fassung zunächst in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

*Ralf Stegner selbst ließ ausrichten, dass er „zeitlich keine Möglichkeit sieht“, sich zum Thema zu äußern.