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Mittwoch, 19. Juli 2006, 2:00 Uhr

Die Fahnen runter!

Schluss mit Kindergarten

Info Archiv Norderstedt | Die eingetragene Handelsmarke "FIFA-Weltmeisterschaft" machte es möglich: Rund 40 Jahre nach den Hippies wurde wieder in bunten Kostümchen auf den Straßen getanzt, gemeinsam gesungen und mit nackigem Oberkörper in der Sonne geflirtet - nur diesmal leider ohne jeden fortschrittlichen Anspruch. Nach dem Halbfinaleinzug der Millionärs-Truppe um Sparkassen-Klinsmann und o2-Beckenbauer blockierten auch in Norderstedt Hunderte die Straßen, grölten "Deutschland, Deutschland!" Warum die Nationalspieler peinlich- und auch viele Patrioten immer noch Idioten sind, erklärt das Infoarchiv gerne hier.

"Nationalismus ist eine Kinderkrankheit, quasi die Masern der Menschheit" (Albert Einstein)

Deutschland-Fanartikel im Anzeigenblättchen

Deutschland-Spielzeug zu Ramschpreisen - nachträglich layoutet

Fast jeder vierte Norderstedter Haushalt hatte für die WM geflaggt, übrigens weit mehr als in anderen Städten und auch in den meisten Hamburger Stadtteilen: Schwarz-Rot-Gold an Autos, an Balkonen, Schaufenstern. Spätestens seit auch das "Hamburger Abendblatt", die "Zeit" oder die "Morgenpost" vom "neuen, freundlichen Patriotismus" oder auch vom "toleranten, patriotischen Deutschland" brabbelten, sind die letzten Dämme für den neuen Nationalismus gebrochen: Es ist dieser Tage cool, es ist "Pop", sich in die Nationalfahne zu hüllen, "Super Deutschland!" zu kreischen oder im Stadion zu singen: "Steht auf, wenn Ihr Deutsche seid!" Nach dem glücklichen Sieg über Argentinien der vorläufige Höhepunkt in der Region: Bis zu 700 NorderstedterInnen blockierten bierselig die Ulzburger Straße, riefen immer wieder "Deutschland!". Mit diesen ärgsten Auswirkungen dieses Trends ist es nun erst einmal vorbei. Nachdem schon der wenig überraschende Gruppensieg, sowie die Erfolge gegen Schweden und Argentinien mit Leuchtraketen und nationalistischen Autokorsos auf Ulzburger Straße, Ohechaussee und Rathausallee gefeiert wurden, hat Italien die Träumereien von der vierten deutschen Weltmeisterschaft im Halbfinale begraben. Zeit, dass nun auch endlich wieder die lästigen Nationalflaggen aus dem Straßenbild verschwinden.

"Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein: Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen." (Arthur Schopenhauer)

Zuvor haben viele Menschen auch in Norderstedt wieder zu glauben angefangen, dass ausgerechnet ihre Nationalität etwas Gemeinschaft stiftendes, etwas Positives ist. So ganz, als ob während der Weltmeisterschaft plötzlich die Millionäre von der Hamburger Elbchaussee oder aus Blankenese mit dem Hartz-IV-Empfänger aus der Post-Siedlung und der Rathausallee Eins werden, eine "Familie" bilden, nur weil sie zufällig unter der selben Fahne stehen. In den Unternehmen und in Berlin nahm man so viel Naivität gerne an: Lohnsenkungen und Arbeitsplatzabbau wie bei der schwerreichen Allianz wurden gezielt während der Weltmeisterschaft angekündigt, gleichzeitig bot man den Beschäftigten in den Firmen an, die Spiele des deutschen Teams in der Arbeitszeit und vor allem: gemeinsam zu verfolgen. Wer kann schon böse werden, bei so netten Chefs? Die Bundesregierung verteilte zeitgleich die Gesundheitskosten massiv auf die Arbeitnehmer um, quasi als WM-Geschenk an Unternehmen und Schwerreiche. Wer hat wohl vor diesem Hintergrund mehr mit einem deutschen Handwerker gemein: Ein holländischer, ghanaischer oder argentinischer Handwerker oder ein deutscher Millionär? Die Antwort ist klar, der Trubel um National-Fahne und -Hymne umso hirnverbrannter.

"Nationalismus: Übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation" (Nationalismus im Lexikon)

Deutschland-Fanartikel, gleiches Anzeigenblättchen

Ramsch-Preise II - nachträglich layoutet

Aber was oder wen genau feierten die Fans überhaupt, warum bildeten sie plötzlich Autokorsos und tausendfache Fahnenmeere? Etwa weil Deutschland eines der reichsten Länder der Erde ist, seine Unternehmen aber durch profitbedingte Abwanderung und Arbeitszeitverlängerung mehr als (offiziell) 4 Millionen Arbeitslose vor sich hin dämmern lassen? Feiern sie Hartz IV, Dumpinglöhne und Steuergeschenke für Unternehmen, die Deutschland in den letzten Jahren beschloss? Oder bejubeln sie die deutsche Mannschaft - 20 Multimillionäre um Sparkassen-Klinsmann und o2-Beckenbauer, denen trotz ihres Reichtums kein Werbespot dumm genug ist, um nicht ihr Gesicht reinzuhalten? Feiern sie die FIFA, die einen ehemals schönen Fußballwettkampf zum reinen Kommerzspektakel mit peinlichsten Werberegeln gemacht hat? Freuen sie sich für die offiziellen FIFA-Sponsoren, den weltweiten Dumpinglohnbetrieb McDonalds oder die Coca Cola AG, in deren kolumbianischen Fabriken immer wieder Arbeiter verschwinden - zufällig immer Gewerkschaftsaktivisten. Vielleicht geht es ja aber auch wirklich um Deutschland: Jenes unförmige Gebilde, das erst 1871 - als eine der letzten europäischen Nationen - aus ein paar Dutzend Fürstentümern zusammengezimmert wurde, um effektiver Krieg führen zu können und weil es nur so für Kapitalismus, bzw. aufkommende Industrialisierung gewappnet war. "Wir werden Weltmeister", hörte man dieser Tage. Wer aber waren "wir"? Oder besser: Wer ist es nicht?

"Zeit, dass sich nix mehr dreht. Die Welt hat eine Pause nötig. Und Deutschland auch. Das Land kann wieder das werden, was es vor dieser WM gewesen ist. Sie werden statt Freunde zu Gast wieder zu viele Ausländer im Land haben." (Kronenzeitung, Österreich)

"Die Welt zu Gast bei Freunden", lautet das WM-Motto. Tatsächlich strahlte nicht nur Alster-Radio nach dem polnischen Ausscheiden den ganzen Tag über ebenso dumme wie rassistische Polen-Witze aus. Vor dem Schweden-Spiel scherzte man über Elche, die MoPo titelte: "Betet ihr noch oder packt Ihr schon?" Und wie war das in den Spielen gegen Argentinien und Italien, als das "tolle" Publikum fast jede Ballberührung des Gegners ebenso auspfiff, wie die fremden Nationalhymnen. Im Italienspiel skandierte das "tolerante Deutschland" tausendfach: "Ihr seid nur der Pizzalieferant". Und gegen Argentinien riefen die "großartigen" Fans unter anderem: "Hörst Du das Gestöhne, Argentinien Hurensöhne". So ist das bei deutschen Freunden. Während derweil die "Black-Stars" aus Ghana und ihr kleiner touristischer Anhang tagelang gefeiert wurden und u.a. deshalb das Hamburger Abendblatt "endlich" das Bild vom "toleranten Deutschland im Ausland" herbeisehnte, schoben insbesondere Hamburg und Schleswig-Holstein die nicht so wohlhabenden "Black Stars" in eben jenes Ghana ab. Vor allem die Hamburger- und die Segeberger Ausländerbehörde sind seit Jahren bekannt dafür, so wenig Menschlichkeit wie eben möglich bei ihren Entscheidungen walten zu lassen. Das selbe Hamburger Abendblatt hatte übrigens nur rund drei Wochen zuvor berichtet, dass nach einer aktuellen Umfrage 58% der Menschen in Niedersachsen der Meinung sind, es gäbe "zu viele Ausländer in Deutschland". Nach einer mehrjährigen Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung distanzieren sich 36,5% der Deutschen nicht von der Aussage "Deutschland gehört den Deutschen, für Ausländer ist kein Platz" oder stimmen ihr gar zu. Wer solche Freunde hat, um mal ein altes Sprichwort zu bemühen, braucht keine Feinde mehr. So trug ein Bericht von Spiegel-TV dann kürzlich auch den treffenden Titel "Die Welt zu Gast bei Feinden". Darin wurden Dutzende Fußball-"Fans" von Vereinen der beiden Ost-Oberligen interviewt, die allesamt rassistische Schmähungen von sich gaben. Ein Anhänger von Dynamo Berlin: "Das richtet sich nicht gegen den Neger, der hier spielt, sondern gegen diejenigen, die ihn hier spielen lassen". Kein Wunder, dass nicht ein einziges WM-Team freiwillig im deutschen "nahen" Osten zu Gast war - mit Ausnahme des Großraums Berlin: Also eher die wohlhabende Welt zu Gast bei westdeutschen Verkäufern?

"Auf den Nationalismus berufen sich alle, die menschliches Elend verursachen und ausnützen." (Heinrich Heine)

Doch am bedrohlichsten sind eigentlich nicht einmal aufkeimender Nationalismus oder Realitätsverlust der schwarz-rot-goldenen Massen: Wirklich dramatisch ist die offensichtliche Lust auf Fremdbestimmung. Da strömen Tausende zum "Public Viewing" in Hamburg, weil RadiomoderatorInnen sagen, dass das ganz toll ist. Da kaufen Tausende Deutschland-Bimbes in jeder Form, weil die Zeitungen schreiben, dass das nun "in" und außerdem "endlich wieder normal" ist. Da "interessieren" sich Zehntausende plötzlich für Fußball, weil in Radio und TV gesagt wird, dass ja nun wohl "alle" dem deutschen Team den Daumen drücken, "Flagge zeigen" müssen. Gemeinhin nennt man so was Gehirnwäsche und offenbar lassen sich Menschen in Deutschland besonders leicht sagen, was sie tun und lassen sollen. Das Konzept Brot und Spiele hat seit Julius Cäsar nicht mehr so dankbare Opfer gefunden. Selbst die türkischen MigrantInnen in Hamburg-Wilhelmsburg oder Berlin-Kreuzburg haben die Zeichen der Zeit erkannt: Auch diejenigen, die im Alltag von Deutschland ausgespuckt, an den Rand geschoben werden, flaggten Schwarz-Rot-Gold, um wenigstens einige Tage lang dazu zu gehören. Wer in dem allgemeinen Deutschland-Getöse indes auch nur den Finger hebt, um Bedenken anzubringen, dem schallt ein tausendfaches "Spielverderber!" entgegen. Um welches "Spiel" aber geht es hier? Um "Ach wie gut, dass gerade niemanden interessiert, dass die Allianz bei über 4.000.000.000 Euro Gewinn siebeneinhalb tausend Menschen entlässt? Egal: Deutschland! Deutschland! Und rauf auf die Auto-Hupe.

"Die deutsche Menschenmenge, ein diszipliniertes Meer von Fans. Sie wirken immer so, als hätten sie eine natürliche Fernbedienung. Die Furcht, die daraus entsteht, ist, in wessen Händen der Kontrollknopf letztlich landet." (La Repubblica, Italien)

Hinter all diesen - sagen wir mal: erstaunlichen - Entwicklungen steht letztlich ein erschreckender Wunsch danach, "in der Masse unterzugehen", Eins zu sein mit anderen. Es geht nach dem Zeitalter der 68er um das Gegenteil von Individualität, um das Gegenteil von Engagement für Aufklärung und Fortschritt. Allzu viele Menschen lassen jeden Tag Erniedrigungen am Arbeitsplatz oder auf Ämtern über sich ergehen, ohne auch nur einen Funken Widerstand - schimpfen dann aber abends mit Freunden heftig über "die da oben", die das alles nicht richtig machen. Die Menschen zeigen, sie dokumentieren ihren dringlichen Wunsch, dass irgendjemand ihre Dinge regeln soll, natürlich irgendjemand wie sie, beispielsweise ein durchgeknallter Amtsrichter wie Ronald Barnabas Schill. Sie selber wollen aber nicht aktiv werden, keinen "Ärger" haben, sich auch nicht einbringen, am liebsten unsichtbar sein. Wenn es dann nicht so läuft, wie sie wollen, kann immer noch auf "die da oben" geschimpft werden oder noch besser: Auf die da unten getreten werden. Beispielsweise auf "die Ausländer", die - wie in Niedersachsen - natürlich einfach "zu viele" sind ... wenn gerade nicht die halbe Welt zusieht. Wenn die Menschen - wie vor kurzem auf der Ulzburger Straße - in einer einzigen, großen Masse "Deutschland! Deutschland!" brüllen, dann ist das vor diesem Hintergrund wie ein Schrei nach Führung. Jemand soll kommen, uns zu erlösen. Für eine Weile haben das "Schweini, Klinsi und Poldi" von der armseligen Dauerwerbesendung "Klinsmann und Co" erledigt. Interessanter ist: Wer kommt als Nächstes?

Veröffentlicht in Sonstige mit den Schlagworten Fußball, Nationalismus, Norderstedt