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Freitag, 30. Januar 2009, 1:00 Uhr

In Erinnerung rufende Klage

Eine Kirchengemeinde stellt sich ihrer Verantwortung

Von Karl-Helmut Lechner | Und so könnte es gewesen sein:

"Stolz stellt der Chef des Reichssicherheitshauptamtes in gemütlicher Runde die bürgerlichen Berufe seiner Offiziere in den Einsatzgruppen vor. "Rechtsanwalt, Arzt, Wirtschaftsexperte, Opernsänger", zählt Heydrich auf und legt eine Kunstpause ein. "Und hier ist unser Prachtstück - Standartenführer Biberstein, ehemaliger lutheranischer Pastor."
"Biberstein!" ruft Heydrich scherzend, "erzählen Sie uns doch mal von dieser Organisation, die Sie gründeten, als Sie die Kanzel verließen. Wie hieß sie noch?" Biberstein, auf einmal im Mittelpunkt, errötet. "Die Bruderschaft der Liebe", antwortet er. "Und wie hat sie sich bewährt?" frotzelt einer der SS-Männer. "Leider sehr schlecht", antwortet Biberstein gequält, "deshalb bin ich ja auch bei der SS gelandet." "Das Evangelium verbreiten, was, Biberstein?" höhnt die Männerrunde. "Ach, das ist hier gar nicht nötig", versucht Biberstein den Schulterschluss, "hier sind wir alle Bekehrte zu einem neuen Glauben."
Eine Fiktion? Diese Szene stammt aus Gerald Greens Roman Holocaust. In Kaltenkirchen war sie Wirklichkeit geworden.
Der Romanfigur von Green liegt das Leben Ernst Bibersteins zugrunde. Vor 1941 hieß der SS-Mann Ernst Szymanowski. Geboren am 15. Februar 1899 in Hilchenbach im Kreis Siegen, hatte Szymanowski nach der Schulzeit zwei Jahre lang als Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft.
In nur vier Semestern studierte er evangelische Theologie, besuchte sechs Monate ein Predigerseminar und schloss seine Ausbildung mit einem Vikariatsjahr ab und wurde Pastor in Schleswig-Holstein. 1924 in Kating, Eiderstedt, und 1927 in Kaltenkirchen. Im Oktober 1933 wurde er zum kommissarischen Propst von Neumünster und wenig später zum Propst von Bad Segeberg ernannt.
Bereits am 19. Juli 1926 war er in die NSDAP eingetreten. Aktiv als "SA-Pfarrer" in der ihr nahe stehenden kirchenpolitischen Gruppierung der Deutschen Christen, wollte er beiden Herren dienen: Jesus und Hitler. 1934 bis 1935 war er Kreisschulungsleiter der NSDAP. Auf einer Parteiversammlung im November 1934 erklärte er, wer Deutschlands Unglück sei: "Der Jude, ob Marxist oder gleich in welcher Schattierung, ist immer das Verderben bringende Übel der Völker gewesen. Wo nur der geringste Anlass besteht, sein Verderben bringendes Gift auszustreuen, wird es geradezu gründlich besorgt."
Bald hielt es Szymanowski nicht länger im kirchlichen Dienst. Er strebte mitten in den NS-Staat und wechselte ins Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten. Am 1. August 1936 trat Szymanowski der SS bei, Mitgliedsnummer 1300292. und brachte es bis zum Obersturmbannführer. Als Verbindungsmann zur Geheimen Staatspolizei in einer herausragenden Position angestellt, löste er sich immer mehr von der Amtskirche. In einem Fragebogen zur Ergänzung der Parteiakte betonte er 1937, im Besitz eines germanischen "Jul-Leuchters" zu sein. Im darauf folgenden Jahr trat Szymanowski aus der Kirche aus. Seine Konfession gab er fortan mit "gottgläubig" an. Er hatte sich für Hitler als seinen einzigen Herrn entschieden.
Im August 1941 wurde er nach Oppeln versetzt, um Leiter der dortigen Staatspolizeistelle zu werden, jetzt unter seinem neuen Namen Ernst Emil Heinrich Biberstein. Denn sein Namen erschien ihm zu "polnisch", wie er sagte, er wollte aber ganz und gar ein deutscher Nationalsozialist sein. Dort organisierte er die Deportation der einheimischen Juden.
Statt MGs setzt Biberstein lieber Gaswagen ein
Dann kam er im Juni 1942 nach Russland, wo er das Einsatzkommando 6 der Einsatzgruppe C anführte. Ihm wurde die Führung eines Einsatzkommandos der SS übertragen - im südrussischen Rostow, der heutigen Ukraine.
Sein Auftrag bestand darin, die Bevölkerung in dem besetzten Gebiet durchzukämmen, Haus für Haus, um auch jene Juden noch aufzutreiben, die den vorauf gegangenen deutschen Massakern entkommen waren. Sie galt es - immer mit Kenntnis und Unterstützung der Wehrmachtsführung - aus ihren Verstecken zu holen. Es waren fast nur Frauen, Kinder und Greise - denn die Männer kämpften längst in der Roten Armee.

Das ganze Ausmaß von Bibersteins Taten wurde 1947 im Nürnberger Einsatzgruppenprozess deutlich. Biberstein selbst gab die Zahl der von seinem Kommando erschossenen Männer, Frauen und Kinder mit "zwei bis drei Tausend" an. Sie wurden entweder erschossen oder in speziell gebauten Lkws vergast. Er habe die Vernichtung durch "Gaswagen bevorzugt, weil die Gesichter der Toten nicht verzerrt waren". Vom Chefankläger in Nürnberg, Robert W. Kempner, ist Bibersteins Selbstverständnis überliefert: "Da er nach seiner eigenen Aussage noch am unsichtbaren Altar seiner eigenen Religion betete, wurde er gefragt, ob er versucht habe, den vor dem Tode Stehenden Zuspruch und Trost zu bieten. Seine Antwort war, dass man, da der Bolschewismus den Atheismus predigte, "keine Perlen vor die Säue werfen sollte". Er habe gegen das Gebot der Liebe nicht verstoßen." Biberstein erklärte vor dem Gericht: "In Bezug auf alle Anklagepunkte fühle ich mich vor Gott und meinem Gewissen nicht schuldig."

Am 8. April 1948 wurde er zum Tode durch den Strang verurteilt.

Kaltenkirchener Kirchenzeitung "Pflugschar und Meißel"

Schauderhaft und ekelerregend mutet uns eine Biographie wie die des Szymanowski-Biberstein selbst nach so vielen Jahrzehnten an. Lehrreich auch für heute ist ihr sozialer und ideologischer Zusammenhang. Ist sie doch ein Beispiel dafür, wie sich in der evangelischen Kirche auf dem Lande in Schleswig-Holstein, der Faschismus bis hin zur brutalsten Umsetzung in Verbrechen entwickeln konnte: Vom religiös gefärbten Sympathisieren mit faschistischem Gedankengut hin zur festen Überzeugung, von der Überzeugung hin zur mörderischen Tat.

Einen nicht geringen Beitrag dazu leisteten die kirchlichen Gemeindeblätter Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre. "Die evangelische Presse präsentiert traditionsgemäß das Sprachgefühl des institutionalisierten Christentums mit seiner gehobenen, oft kanaanitischen und gelegentlich esoterischen Sprechweise. ? Zugleich wird aber die Kirchensprache für die ganz andere Sprachwelt pathetischer Propaganda und Agitation missbraucht. Die Verbindung von religiösem mit nationalem Pathos führt zu einer Verfälschung des spezifisch evangelischen Sagens." So eine Analyse der ideologischen Funktion dieser Blättchen.
Die Kaltenkirchener Kirchenzeitung "Pflugschar und Meißel" legte zum Jahresbeginn 1933 ihren Lesern die Frage in den Mund "Was erwarten wir von 1933?" Die Antwort wies mit geradezu religiösem Pathos hin auf den, der da kommt: Adolf Hitler. "Man hat das Bild des berühmten Mannes schon oft gesehen, man weiß, wie er aussieht ? Man erwartet noch irgend etwas besonderes von ihm, seine Gestalt, seine Sprache, seine Bewegungen werden dies besonders offenbaren. Und so schlägt ihm, wohin er auch kommt, eine große Erwartung entgegen. Kein Zweifel, dass heute unzählige von dieser Erartung des Außerordentlichen - um nicht zu sagen: des Wunders - beseelt sind."
Typisch ist die Mischung aus religiös formuliertem Nationalsozialismus und Blut-und-Boden-Theologie: "Geschichte wächst als Schicksal aus Blut und Boden. Männer, die Geschichte machen, nehmen dieses Schicksal, Blut und Boden, als Aufgabe. Alles Schicksal wird überwunden, wenn der Mensch sich selbst als Opfer gibt zur Hilfe für seine Nächsten, für die Brüder aus Blut und Boden: Dann werden Blut und Boden geweiht als heilige Zeichen des Schicksals, und durch opferbereite Menschen entsteht gewaltige Wandlung, den von ihren Lippen flammt der Ruf: Gott will es!" So in "Pflugschar und Meißel" vom 14. Januar 1934.

Die Amtskirche schaltet sich ein: "Die Dinge lagen ganz anders"

Aber die Geschichte geht ja noch weiter: Szymanowski-Biberstein wird 1947 nicht sofort hingerichtet. Zahlreiche Gnadengesuche der Kirche bewirken 1951, dass seine Todesstrafe in lebenslänglichen Freiheitsentzug umgewandelt wird. Am 1. November 1953, noch in Haft, nimmt die evangelische Kirchengemeinde Neumünster Szymanowski-Biberstein wieder auf. Am 8. Mai 1958, wurde Biberstein auf "Parole", d.h. unter dauerhafter Beaufsichtigung und Betreuung, freigelassen.
Als am 16. Juni 1958 im Pressedienst des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes nüchtern und objektiv der Werdegang und die Verbrechen des Szymanowski-Biberstein unter der Überschrift "Das war einst ein Pfarrer" geschildert wurden, reagierte im Deutschen Pfarrerblatt (Nr. 18/1958) der Propst von Neumünster Richard Karl Steffen mit dem Gegenartikel: "Die Dinge lagen ganz anders": "Den Ausführungen des Pressedienstes ? muß widersprochen werden. Über 12 Jahre saß B. in Landsberg. Lange Zeit war er Todeskandidat, der jeden Freitag darauf wartete, dass sich auch seine Tür öffnete zu seiner Hinrichtung. So lange hat die Familie um ihn gebangt und auf seine Freilassung gehofft.. Die spärlichen Besuche, die erlaubt waren, geschahen nur unter Aufsicht. Das Rote Kreuz bemühte sich um seine Freilassung im Paroleverfahren. Ich erklärte mich bereit, für ihn zu bürgen und ihm wenigstens einen Arbeitsanfang zu ermöglichen. Andere halfen mir darin. Viele Gesuche wurden abschlägig beschieden. Immer neue Enttäuschungen! Nach der Aussage des Gefängnisgeistlichen hat B. diese Zeit in vorbildlicher Haltung durchgestanden, und zwar im wesentlichen gehalten durch Gottes Wort und Sakrament und durch seinen in der Tiefe gereiften lebendigen Christusglauben. So konnte er auch den anderen Zuspruch geben. Endlich kam jetzt im Mai der Tag seiner Freilassung nun doch ganz plötzlich ? Wir konnten ihm für einige Monate Arbeit bei uns im Kirchenbüro geben. Was weiter werden soll, ist noch ungewiß. Ich kann den Fall hier im einzelnen nicht darlegen. Aber das muß ich auf Grund meiner sehr eingehenden Beschäftigung mit den ganzen Zusammenhängen sagen: Die Dinge liegen ganz anders, als wie sie nach dieser Notiz den Anschein haben. Wir sollten doch auch sehr vorsichtig sein in der Verwertung der Nürnberger Prozessakten. Nach meiner Überzeugung ist B. kein Verbrecher. Was übrig bleibt an Schuld vor Menschen und Gott, ist menschlich gestraft genug und geistlich in Gottes Vergebung gestellt. Sollten wir nicht auch vergeben können?"

"Die in die Erinnerung rufende und weckende Klage - sie täte auch uns gut."

Dr. Gerhard Hoch, der durch seine historische Forschung viele dieser Fakten wieder an das Tageslicht gebracht hat, eröffnete seine Ansprache am 9. November 2008 in der Michaeliskirche zu Kaltenkirchen mit den Worten: "Dieser Tag und dieser Gottesdienst rufen uns an, unsere Gedanken und unsere Gefühle zu öffnen, und Ereignisse einzulassen, die lange zurück liegen, die aber unsere Geschichte unablösbar begleiten." "Denken wir daran, dass jenes Furchtbare sich aus kleinen Anfängen auch hier am Ort entwickelte: Aus den Bildern, den Schlagworten, den Reden und Liedern, auch dem Sonntagsblatt der Gemeinde "Pflugschar und Meißel" mitten in unserer engsten Heimat Menschen ausgegrenzt wurden, erst aus dem Wirtschaftsleben, dann aus Kultur und Gesellschaft, am Ende aus ihrer physischen Existenz. Ausgrenzung tötet!" "Wahrhafte, schwerste Schuld hat sich die Kirche insgesamt dadurch aufgeladen, dass sie fast vom Anbeginn ihrer Geschichte das Gift des kirchlichen Anti-Judaismus säte, ein Gift, das in Deutschland zum tödlichen rassistischen Antisemitismus gesteigert wurde. ? Die in die Erinnerung rufende und weckende Klage - sie täte auch uns gut."

Siebzig Jahre nach der Reichspogromnacht, nach jahrzehntelangem Schweigen, brachte die Kirchengemeinde es über sich und benannte offiziell die Tatsache, dass einer ihrer Geistlichen zu den NS-Schergen gehörte.

Wir dokumierten den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Lokalberichte Hamburg.

SS-Mann Biberstein, das Foto ist von Biberstein selbst bei dem Versuch beschädigt worden, Beweismaterial zu vernichten.

Veröffentlicht in Geschichte mit den Schlagworten Polizei, Schleswig-Holstein