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Mittwoch, 19. Februar 2014, 10:41 Uhr

Patienten hinter Panzerglas

Fenster hinter Stacheldraht

Zumindest optisch unterscheiden sich "Maßregelvollzug" und Haft kaum (Foto: Infoarchiv)

Infoarchiv Norderstedt | Asklepios-Klinik Ochsenzoll, Haus 18: Hier leben Straftäter, die psychisch krank und deshalb schuldunfähig sind. Sie sind nicht zu Haft verurteilt, sondern untergebracht zur Besserung und Sicherung. Burkhard Plemper hat Mitarbeiter und Patienten im Hamburger Maßregelvollzug besucht.

Ein letztes Mal atme ich noch tief durch, bevor sich die massive Metalltür wie von Geisterhand hinter mir schließt. Das Haus ist gesichert, wie ein Gefängnis, jeder muss durch die Schleuse. Hinter Panzerglas sitzt ein Wachmann, verlangt den Personalausweis und schiebt durch eine Schublade ein Schild "BESUCHER" rüber, sichtbar zu tragen. Weil ich allein mit den Patienten reden will, bekomme ich einen Alarmmelder, ein Gerät, das aussieht wie ein Handy, mit einem großen roten Knopf.

Hinweisschild Richtung "Haus 18", Klinikum Nord Ochsenzoll

Zum Haus 18: Hier werden im Klinikum Nord die psychisch kranken Straftäter untergebracht (Foto: Infoarchiv)

Ein Pfleger wartet auf mich, schließt die schwere Zwischentür auf. Dann erst geht es in einen Vorraum. Es folgt ein langer Flur zu den Stationen. Jeder einzelne Abschnitt ist verschlossen. Durch große Fenster fällt Tageslicht herein. Vergittert sind sie nicht. Das Panzerglas hat noch niemand zerschlagen können - es hat auch lange keiner mehr versucht. Mein Blick fällt in einen kleinen Innenhof: ein Stück Rasen, eine Bank und eine hohe, sehr hohe Mauer, auf der Krone gedrehter Nato-Stacheldraht.

Es ist sieben Uhr, Morgenrunde auf Station fünf. 18 Männer sitzen im Kreis, noch ein wenig verschlafen. Männer mit langer Suchtkarriere, dazu einer Persönlichkeitsstörung und einer Psychose. Sie sind Patienten der Forensischen Psychiatrie, nicht Gefangene oder Insassen, als die sie oft bezeichnet werden. Die Jüngsten sind knapp über zwanzig und sehen auch so aus, andere dürften in den Fünfzigern sein.

Ein wenig eng ist es, Stuhl an Stuhl steht an den Wänden. Sebastian Ahlers*, der Dienst habende Pfleger, kontrolliert, ob alle da sind. Und bespricht kurz und knapp die Besonderheiten im Tagesablauf für den einen oder anderen, etwa Besuch vom Anwalt. Auf den ersten Blick ist er nicht unbedingt von seinen Patienten zu unterscheiden. Niemand trägt so etwas wie Anstalts- oder Dienstkleidung. Erscheinen zur Morgenrunde ist Pflicht - und zwar pünktlich! Wer nicht da ist, hat entweder einen triftigen Grund oder er bekommt ein Problem.

Ein wenig später, es ist noch immer ziemlich früh, sitzen einige der Männer im kleinen Raucherzimmer der Station, dem einzigen Aufenthaltsraum außer dem Fernsehzimmer. Die Luft ist zum Schneiden. „Man sitzt hier zusammen, Nichtraucher und Raucher. Man kann sich schlecht aus dem Weg gehen“, erklärt der 31jährige Felix*. Das Rauchen ist den Männern wichtig und Nikotin als Suchtmittel erlaubt. Jeder hat eine Dose Tabak vor sich auf dem niedrigen Tisch, dreht sich eine Zigarette, lehnt sich zurück in die abgewetzten Polster, qualmt vor sich hin, drückt die Kippe im überquellenden Aschenbecher aus und dreht sich die nächste.

Seit zwei Jahren ist Felix im Maßregelvollzug. Wie er dahin gekommen ist, will er gern erzählen, später. Denn erst einmal ist Medikamentenausgabe, um halb acht. In einer Schlange stehen die Männer auf dem Flur. Einzeln treten sie an die geöffnete Tür zum Behandlungsraum. Der Pfleger hinter einem heruntergeklappten Brett nimmt einen kleinen Becher und schüttet den Inhalt dem Patienten in die Hand, Pillen in unterschiedlichen Größen und Farben. Dazu reicht er ein Glas Wasser und sieht genau hin, ob auch jeder die ganze Mischung schluckt. Felix hat sich seine morgendliche Ration geholt und muss zur UK – wie es im Anstaltsjargon heißt – zur Urinkontrolle. „Es wird geguckt“, erklärt er, „ob jemand Drogen konsumiert hat.“ Wer dran ist, muss bis viertel vor acht den kleinen Becher abgegeben haben.

Oder er kommt in den Kriseninterventionsraum: Ein schlichter Raum der Nachbarstation, der nichts enthält, womit sich ein Patient verletzen könnte, durch ein Fenster zum benachbarten Dienstzimmer überwacht und zusätzlich durch eine Kamera, unerreichbar hoch oben an der Decke. Toilette und Waschbecken sind aus Edelstahl, unzerbrechlich.

Felix braucht diese Drohung nicht; er trinkt drei Tassen Kaffee. Gefunden haben die Spezialisten im Labor noch nie etwas bei ihm – und werden es auch nicht; da ist er sicher. Bei Mitpatienten ist das schon vorgekommen, sei aber äußerst selten, wie Stationsleiterin Ragna Haller* stolz betont. Schließlich achten sie darauf, dass niemand etwas einschleppt. Felix will weg von den Drogen und der Szene, in der er bisher gelebt hat.

"Asklepios-Schild", Stacheldraht

Kurz vor acht. Die Männer sammeln sich auf dem Stationsflur. Aufbruch ins Forensische Therapiezentrum - kurz FTZ - zur Arbeits-, Ergo- und Beschäftigungstherapie. Es liegt in einem anderen Trakt des weitläufigen Klinikgebäudes. Die Patienten stehen vor der verschlossenen schweren Tür, warten, bis Ragna Haller* aufschließt, warten, bis sie abgeschlossen hat, gehen weiter zur nächsten Tür, die wieder nur sie oder ihre Kollegen öffnen können, warten, durchqueren eine kleine Halle, treffen vor der nächsten Tür auf die Mitpatienten von den anderen Stationen, bevor sie - wie es heißt - durchgeschlossen werden zu einem Vorraum, dann zu einem Flur, an dem die verschiedenen Werkstätten liegen.

Alles ist unter Kontrolle. Forensische Kliniken sind eine abgeschottete Welt für sich, als „totale Institutionen“ hat sie der Soziologe Erving Goffmann vor über fünfzig Jahren schon bezeichnet. Das ganze Leben findet unter einem Dach statt, ist geregelt bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Eine solche Institution fördert kein selbständiges Handeln, sagen Kritiker, sondern verlangt bedingungslose und vollständige Anpassung an die künstliche Welt hinter Mauern. In dieser Welt sollen sich die Patienten aber - wie es wörtlich in den Regularien der Station 18/5 heißt - „selbst verändern, um zukünftig ein straffreies Leben zu führen“. Während ihrer Zeit im Maßregelvollzug soll die Öffentlichkeit sicher vor eventuellen weiteren Straftaten sein. Vor allem sollen die Jahre hinter Mauern der Besserung dienen - durch Therapie und durch die Möglichkeit, den Lebensunterhalt später mit Arbeit zu bestreiten.

Dass Arbeit den Tag strukturiert, ist für einige der Männer eine neue Erfahrung. Teilnahme an der Arbeits- und Beschäftigungstherapie ist Pflicht. Ausnahmen gibt es nur bei Krankheit oder anderen wichtigen Gründen. Felix hat einen solchen Grund. Gerade hat er ein Formular mit seiner Personenbeschreibung ausgefüllt: Alter 31, Größe 1,70, dunkles Haar und braune Augen, blaue Jeans und blaues Sweatshirt. Das hat er im Dienstzimmer seiner Station 18/5 vom Pfleger unterschreiben lassen. Es kommt an die Pinnwand - für die Fahndung, falls Felix flüchten sollte. Er darf nämlich raus an diesem Vormittag. Einkaufen. In Begleitung. Aufgeregt steht er im Flur und wartet auf Sebastian Ahlers.

Alles ist unter Kontrolle. Forensische Kliniken sind eine abgeschottete Welt für sich.

Man kommt mal raus, kann in die Freiheit und ein bisschen spazieren gehen. Das ist keine Belohnung, sondern Teil der Therapie, betont Ragna Haller. Die Patienten sollen lernen, sich im Alltag zurecht zu finden, etwas so Normales wie einen Einkauf zu schaffen. Natürlich ist ganz genau geregelt, wie der abzulaufen hat, nicht spontan, sondern entsprechend einer vorher geschriebenen Liste. Und wenn sie etwas nicht finden, sollen sie nicht ihren Begleiter fragen, sondern eine Verkäuferin.

Fenster hinter Stacheldraht

Das Haus verlassen - das geht nur in Begleitung. Und auch das nur, wenn zuvor die Behandlung gelockert wurden (Foto: Infoachiv)

Das Haus verlassen - auch in Begleitung - darf ein Patient nur, wenn das Team zu der Einschätzung kommt, dass er die Gelegenheit nicht zur Flucht, zu Straftaten oder dazu nutzen wird, sich etwa zu betrinken. Ob einer der Männer - wie es im Anstaltsjargon heißt - "gelockert" ist, steht in der jeweiligen Patientenakte und auf einer Wandtafel im Dienstzimmer. Für Felix ist vermerkt, dass er einkaufen darf, für Andere "Bei Ausführung Fesselung und zwei Mann Begleitung". Einer links, einer rechts, in der Mitte der Patient mit Handschellen. Sicherheit – das betonen die Mitarbeiter immer wieder – Sicherheit gehe nun mal vor. Das gilt auch innerhalb der Klinik: Jeder wird kontrolliert, wenn er aus den Werkstätten zurück auf die Station kommt, ob er etwa Werkzeug mitgenommen hat.

Jedes Mal. Mit einem Metalldetektor streicht ein Pfleger über Hosenbeine, Hemden, T-Shirts. Und wie am Flughafen piepst auch jedes Mal die Gürtelschnalle. Auch Felix wird natürlich kontrolliert, als er nach dem Einkauf zurück auf die Station kommt. Endlich war er wieder draußen: „Was für Andere normal ist, ist für mich ’was Besonderes, ich bin das gar nicht gewöhnt.“ Eine solche Normalität hat der 31jährige nie kennen gelernt, erzählt er stockend, „ich bin nicht bei meinen Eltern aufgewachsen“.

Wir sitzen allein im Gruppenraum, die Tür ist angelehnt – wegen der Sicherheit. „Meine Mutter war Prostituierte, mein Vater war Zuhälter und ich bin im Heim aufgewachsen und habe nachher in einer Jugendwohnung in Neuwiedenthal gewohnt.“ Allmählich kommt er in Fahrt. „Ich bin mit 10 Jahren zum ersten Mal zum Hauptbahnhof gegangen und habe da angefangen Haschisch zu rauchen. Mit 11, 12 habe ich das erste Mal Heroin konsumiert und Kokain und nachher kamen Tabletten dazu, also Schlaftabletten, LSD, Extasy, Speed, die ganze Palette. Ich gehörte damals zu den Crashkids und da gehörte es zum Alltag, dass man halt Drogen konsumiert, Autos aufbricht und Spaß hat, ja.“ Es war der Beginn einer Karriere mit Stationen in Jugendhilfe-Einrichtungen im In- und Ausland, im Jugendgefängnis und schließlich dem für Erwachsene. Auf fünfzehn Jahre Haft bringt Felix es insgesamt. Im Knast ist er erwachsen geworden.

Offensichtlich ist niemandem aufgefallen, dass Gefängnisstrafen nicht das geeignete Mittel waren, den jungen Mann auf einen anderen Weg zu bringen. Wenn er draußen war, ging es gleich weiter: „Beschaffungskriminalität, erpresserischer Menschenraub, Freiheitsberaubung und Diebstahl, Körperverletzung“, zählt er nüchtern auf, „die ganze Palette halt“.

Er selbst, sagt Felix, sei gemeinsam mit seiner Anwältin schließlich auf die Idee gekommen, dass er Hilfe brauche, und habe erreicht, in die Forensische Psychiatrie verlegt zu werden. Die Symptome für seine Suchterkrankung waren wohl eindeutig, auch die der Persönlichkeitsstörung, in der er die Ursache seiner Drogenabhängigkeit sieht: Extrem aggressiv sei er gewesen, gegen Andere und gegen sich selbst, habe "geschnippelt", sich selbst verletzt.

Damit soll endgültig Schluss sein, wenn er wenn er in einigen Monaten aus der Klinik in eine Einrichtung zur weiteren Betreuung entlassen wird. Das entscheidet das zuständige Gericht. Auch dann wird er weiter seine Therapie brauchen und Hilfe - nicht nur beim Einkaufen. Sebastian Ahlers war nämlich gar nicht zufrieden mit Felix an diesem Vormittag: „Er war beim Einkauf unsortiert, hilfsbedürftig und sehr orientierungslos“, berichtet der Pfleger den Kolleginnen in der Dienstbesprechung. Das werden sie mit ihrem Patienten durchgehen, in aller Ruhe und in der Erwartung, dass es beim nächsten Mal besser klappt, wenn es nicht mehr so neu ist für ihn. Schließlich lernt er als Erwachsener, was für Andere von Kindesbeinen an normal war.

Und dann wird Felix zum letzten Mal die hallenden Schritte auf dem Gang hören, das Drehen des Schlüssels im Schloss an jeder Tür, wird endlich wieder vor der Mauer stehen und tief durchatmen. Wie ich nach meinem Besuch.

* Alle Namen sind geändert, bei Patienten sind nur die Vornamen genannt.

 


Dieser Artikel erschien zunächst in der Hamburger Straßenzeitung "Hinz & Kunzt". Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.