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Montag, 22. Juni 2009, 2:00 Uhr

Voll an die Wand

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise

Von almay | 

Im Internet kursiert eine leicht verständliche Geschichte. Sie geht so:

Karins Biergarten in Gelsenkirchen läuft nicht gut. Damit der Umsatz nicht noch weiter sinkt, lässt sie ihre Stammkundschaft anschreiben, gibt ihnen also Kredit. Das spricht sich schnell herum. Immer mehr Kundschaft kommt, und weil das Bezahlen keine Rolle spielt (die Kunden haben ja Kredit), erhöht Karin die Preise - und das immer mehr. So wächst der Umsatz massiv, die Kneipe boomt. Das bemerkt der Kundenberater der benachbarten Bank und bietet der erfolgreichen Wirtin eine unbegrenzte Kreditlinie. Die Bank riecht Geld. Um die Deckung macht man sich keine Sorgen, denn die Bank hat ja die Schulden der Trinker als Sicherheit. Spitzenkräfte der Investmentabteilung veredeln die Bierdeckel in verbriefte Schuldverschreibungen. Die Papiere erhalten Namen wie XXL-Bier-Bond, Prost-Bond oder Gsuffa-Bond und laufen unter der Bezeichnung GTA (Ganz Tolle Anleihen). Sie sind bei einer südamerikanischen Online-Versicherung abgesichert. Weil all das auf dem modernsten Stand des Finanzgebarens ist, erhalten diese Papiere von den Rating-Agenturen ausgezeichnete Bewertungen. Zwar versteht niemand die Produkte, aber weil die Kurse steigen und die Renditen klettern, werden die Konstrukte zum Renner. Investoren reißen sich darum, jeder will mitverdienen. Die Vorstände und Investmentspezialisten der Bank erhalten dreistellige Millionenbeträge als Bonus. Obwohl die Kurse immer noch steigen, stellt ein Risiko-Manager irgendwann fest, dass es an der Zeit sei, die ältesten Deckel von Karins Kunden langsam auf fällig zu stellen.Wegen seiner negativen Grundeinstellung wird der Spaßverderber entlassen. Aber für alle kommt es überraschend, dass weder die ersten noch die nächsten armen Schlucker ihre Schulden bezahlen. Bei vielen machen sie schon ein Mehrfaches ihres Jahreseinkommens aus - und sie zahlen nicht ab. Wo man auch nachforscht, es kommen so gut wie keine Tilgungen. Jetzt wachen alle langsam aus dem Gewinnrausch auf. Karin muss in die Insolvenz. XXL-Bier-Bond und Prost-Bond verlieren 94 Prozent ihres Werts, Gsuffa-Bond hält sich besser und stabilisiert sich bei einem Kurswert von 18 Prozent. Die Brauerei und die Lieferanten hatten Karin extrem lange Zahlungsfristen gewährt und selbst in die Ganz Tollen Anleihen investiert. Die Gewinnaussichten waren einfach zu verlockend, auch ihre Hausbanken hatten dringend dazu geraten. Der Bierlieferant muss in Konkurs. Der Weinlieferant wird von einer ausländischen Investorengruppe übernommen, weil es dafür massive staatliche Zuschüsse gibt (Agrarsubvention, Erhalt von Arbeitsplätzen in der Weinwirtschaft). Die Bank wird durch Steuergelder gerettet. Der Bankvorstand verzichtet für das Geschäftsjahr auf den Bonus.

Voll an die Wand

Wie man es auch anschaut, im Nachhinein beleidigt die internationale Finanzkrise die Intelligenz. Und doch haben (fast) alle mitgemacht: Bankvorstände, Aufsichtsräte, Regierungen, viele studierte Leute, nicht nur kleine Anleger. Weltweit sind zig Milliarden an Werten vernichtet. Weltweit werden jetzt zig Milliarden an Rettungsspritzen notwendig. Ein Ende ist noch gar nicht in Sicht. Man muss kein glühender Anhänger von Karl Marx sein, um an seiner Kritik des Kapitals viel Richtiges zu finden. Etwa die Sache mit dem Mehrwert. Der entsteht eigentlich nur durch lebendige Arbeit, durch die Arbeit der Beschäftigten. Der Trick besteht darin, diese Wertschöpfung nicht der lebendigen Arbeit, sondern dem Kapital als "Verdienst" zuzuschreiben. Karl Marx: "Der Arbeitsprozess ist ein Prozess zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen. Das Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebenso sehr wie das Produkt des Gärungsprozesses in seinem Weinkeller."
Was da aber gärte, das war hochgiftig. Hätte der olle Marx gedacht, dass heute von hochgiftigen Finanzpapieren gesprochen wird? Von Finanzmüll? Von schlechten Papieren, die sich wie Säure durch das ganze Finanzsystem gefressen haben? Wie aggressive Viren, meint der "Stern", hätten sie gewirkt und "gesunde Organe angesteckt und krank gemacht". Rund um den Globus mussten bisher über 1.000 Milliarden Dollar abgeschrieben werden, weitere 1.200 bis 2.600 können dazukommen. Mehr als drei Billionen Euro, das ist eine Zahl mit zwölf Nullen, haben die EU-Staaten im Kampf gegen die Finanzkrise bisher bereitgestellt.

Gift im Keller

Knapp vier Billionen Dollar, so wird geschätzt, beträgt weltweit der Bestand an giftigen Wertpapieren (was für ein Begriff!). Alleine in Deutschland soll der Staat mit 200 bis 500 Milliarden Euro für eine "Bad Bank" bürgen, quasi eine staatlich finanzierte Müllkippe für verseuchte Aktienpapiere. Jeder Bundesbürger bürgt schon mit über 1.000 Euro alleine für die Hypo Real Estate (HRE). Deren Chefs klagen auf Millionenabfindungen. Die neun Vorstände der Dresdner Bank kassierten 2008 zusammen 58 Millionen Euro, obwohl ihr Haus 6,3 Milliarden Verluste machte und mit Staatshilfe von der Commerzbank übernommen werden musste. Insgesamt 400 Millionen Euro flossen 2008 noch als Bonus an die Investmentbanker der eigentlich pleitegegangenen Dresdner. Gleichzeitig wurde in Berlin einer Kassiererin wegen zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro gekündigt - und das Gericht gab der fristlosen Entlassung recht. Jeden Tag schreit eine neue Ungerechtigkeit zum Himmel. Auf die "Rente mit 67" zu verzichten, das würde nur drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr ausmachen. Das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was uns die Krise kosten wird, und was über Nacht für die Banken an Staatsknete zur Verfügung steht. Sicher ist, dass die sozialen Sicherungssysteme unter massiven Druck kommen werden.
Das wird besonders Alte, Pflegebedürftige, Kranke und die kleinen Steuerzahler treffen. Die Politik hat dafür noch keine Antworten, und der Bundestagswahlkampf wird eher für eine Verschleierung der wahren Probleme sorgen. Dennmit viel Geld, kleinen Reparaturen und einem großen "Weiter so" ist es nicht getan. Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ist einer der Warner: "Das System, das wir heute haben, ist keine soziale Marktwirtschaft mehr." Deren Prinzip ist laut Geißler ein "geordneter Wettbewerb": "Heute haben wir einen falschen Begriff davon, was richtige Ordnung ist." Geißler kritisiert auch seine eigene Partei: "Viele wollen nicht einsehen, dass die Marktgläubigkeit die Todsünde des Kapitalismus war."

Bankrott des Neoliberalismus

Raushalten solle sich der Staat, weil der Markt am besten alles selber richtet, das war der Kern des Neoliberalismus. Deregulierung hieß das politische Programm. Nur in Venezuela und Kuba gab es dagegen bis zuletzt Widerstand. Bis 1989, also bis vor 20 Jahren, waren Derivate in Deutschland als Glücksspiel verboten. Sie wurden zur wichtigsten Erfindung der Finanzmärkte. Derivate werden von einem Grundwert abgeleitet, zum Beispiel von einer Option auf Aktien. "Wettscheine" wäre die ehrlichere Bezeichnung für diese Papiere. Geschäfte auf Pump, sogenannte Hebelgeschäfte (englisch leverage genannt), wurden zum zentralen Mechanismus. Der besteht darin, Geschäfte mit möglichst wenig eigenem und möglichst viel fremdem Geld zu machen. Eigenkapitalanteile, wie sie bei jedem Haus- oder Autokauf selbstverständlich sind, wurden so außer Kraft gesetzt. Man konnte mit einem Dollar Eigenmitteln bis zu 35 Dollar Kredit aufnehmen - ein Triumph des fiktiven Kapitals. Hochprozentiger Sprit für den Turbo-Kapitalismus. Hunderte von Gesetzesänderungen verschafften Geld und Profit freie Bahn. In nahezu rechtsfreien Räumen türmten sich Schuldenpyramiden und undurchsichtige Konstrukte. Auch Hedgefonds wurden gefördert. Rund 10 000 solcher unkontrollierbaren Heuschrecken davon gibt es inzwischen weltweit.
Die Hedgefonds verfügen heutzutage insgesamt über die geschätzte Summe von zwei Billionen (2 000 000 000 000) Dollar. Mit dem schnellen, großen Geld spekulierten nicht nur Banker. Auch manche Gemeinde oder manche mittelständische Firma wettete auf satte Gewinne. Der Arzneimittel-Milliardär Alois Merkle verlor so viel Geld, dass er seinem Leben ein Ende setzte. Porsche verdiente 2008 mehr Geld mit Aktienwetten als mit Autos. Typisch auch die Geschichte eines Müllheizwerk-Managers aus dem Kreis Neu-Ulm, der sich mit Risikogeschäften als künftiger Chef empfehlen wollte und das kommunale Unternehmen in die Krise stürzte.

Wie es begann

Im Kapitalismus galt bis Mitte der 70er-Jahre die Zeit der "Stakeholder", der Anteilseigner. Die Beschäftigten arbeiteten, die Kapitalbesitzer nahmen den Mehrwert mit. Wer Profite wollte, musste investieren, damit der Mehrwert größer wurde. Sechs Prozent Rendite galten als ordentlich. Die Banken waren direkt am Kapital vieler Konzerne beteiligt. Das Ergebnis: langsame Kapitalkonzentration und soziale Kompromisse. Die Arbeitenden waren abgesichert und sollten die Güter der Massenproduktion auch kaufen können. In den 80er-Jahren zogen die "Shareholder", die Aktienteilhaber, ein, gaben immer mehr den Ton an. Zehn bis zwölf Prozent Kapitalrendite mussten her. Der Druck auf die Arbeitenden wurde erhöht, die Arbeit flexibilisiert und ausgelagert. Die Folge: Globalisierung, Marktöffnungen, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung - das Kapital kündigte immer größere Teile des sozialen Kompromisses. Die Banken stiegen aus den Unternehmen aus, Kapitalfonds mit Erwartungen an hohe Rendite stiegen ein.
In den 90er-Jahren übernahm das Finanzkapital das Kommando und bestimmte immermehr die Regeln. 18 bis 20 Prozent Kapitalrendite galten als Minimum. Mit normaler Produktion war das kaum zu haben. Also wurde die Substanz geplündert. Die Realwirtschaft wurde zunehmend zur Grundlage für Derivate und andere Spekulationsgeschäfte. Auch Öl, Energie, Rohstoffe und sogar Nahrungsmittel wurden zu Spekulationsobjekten. Das Ergebnis dieser Raffgier und Habsucht: hysterische Börsen (zu denen bis heute keine Fernseh-Schaltung irgendeinen tieferen Erkenntniswert bietet), sinkende Real-Investitionen und explosionsartig wachsendes Finanzkapital. Kredite, Vermögen, Geldumläufe und Finanzmärkte gerieten in Fieberrausch. Irgendwann platzte die Blase. Nämlich, als am 15. September 2008 die US-Regierung von George Bush der Investmentbank Lehman Brothers die Rettung verweigerte.

Wer ist schuld?

So wenig es die Schuld der Gelsenkirchener Kneipenwirtin und ihrer Kunden war, so wenig haben die amerikanischen Häuslebauer den Finanzkollaps verursacht. Das erzählen zwar die Banken, aber eine weltweite Wirtschaftskrise, weil einige Hausbesitzer in den USA die Zinsen für ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten? Solche Kleckerbeträge können kein Weltfinanzsystem zum Einsturz bringen. Es sind die Banken und die Finanzmärkte selbst, die den Zusammenbruch verursacht haben. Die Krise ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten neoliberaler Politik. Und die Banken waren von Anfang an federführend dabei. Die Krise begann mit einer Finanzblase. Solch eine Finanzblase entsteht, wenn sehr viel Kapital im Umlauf ist und gewinnbringende Anlagen sucht. Kapitalüberschuss nennt man solch einen Zustand. Dieses viele, viele Kapital konzentrierte sich in der Hand von wenigen Banken und Spekulanten. Die Löhne waren es ja nicht, die in den vergangenen Jahren deutlich stiegen. Die Gewinne waren es, und der Produktivitätszuwachs. Davon wurde zu wenig an die Beschäftigten abgegeben. Davon floss zu wenig in Investitionen. Davon floss viel zu viel in die Finanzmärkte. Sogar die Privatisierung der Altersvorsorge hatte daran ihren Teil. An dem, was man in anderen Ländern Pensionskassen nennt, und an ähnlichen Finanzmodellen verdiente "der Markt" gehörig. Auch das war Geld, das angelegt sein wollte, das Rendite bringen sollte. Alleine in der Schweiz waren das über 600 Milliarden Franken, mit denen die Finanzmärkte zusätzlich angeheizt wurden.

Wildwuchs ohne Kontrolle

Es ist schon verräterisch, wie deutsche Bankberater ihre Opfer nannten, denen sie "Super-Anleihen", wie etwa die Lehman-Papiere, verkauften. "AD-Kunden" hießen sie. Das steht für "alt" und "doof". Unkontrolliert und wildwüchsig wucherte und blähte sich der Finanzmarkt. Einige Beispiele:
  • An einem durchschnittlichen Werktag im April 2007, so errechnete die Weltbank, betrug die Summe aller Devisen- und Derivatengeschäfte 5,2 Billionen Dollar. Das Weltsozialprodukt am selben Tag dagegen lag bei 148 Millionen Dollar.
  • Die Bilanzsumme der zwei größten Schweizer Banken übertrifft die Wirtschaftsleistung der Schweiz um 700 Prozent, hat die Gewerkschaft Unia errechnet.
  • Das Weltfinanzvolumen, die Gesamtsumme aller Kredite, Derivate und Devisenmärkte, beträgt heute das etwa 65-fache der realenWeltwirtschaft.
  • Der US-Spekulant John Paulson setzte mit seinem Hedgefonds auf den Immobiliencrash und fuhr damit den höchsten Gewinn in der Geschichte der Industrie ein: 15 Milliarden Dollar, von denen 3,7 Milliarden auf dem Privatkonto von Paulson landeten. So viel hat noch kein Mensch in einem Jahr verdient.

Ein ehemaliger Banker bezeichnete die internationalen Weltmärkte als "Monster", und ein ehemaliger Super-Spekulant pflichtete ihm bei. Beim Ex-Banker handelt es sich um Bundespräsident Horst Köhler, der einst dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband vorstand. Der Spekulant heißt George Soros und gewann einstmit einer Mega-Spekulation gegen das britische Pfund Milliarden beim Zocken. Soros fordert inzwischen stärkere Regulierungen und eine Eindämmung der Spekulationmit Rohstoffen. Noch Ende März 2009 wetteten in London milliardenschwere Fonds auf den Staatsbankrott von Irland und Griechenland. Der Irrsinn ist noch nicht vorbei.

Veröffentlicht in Arbeit & Kapital mit den Schlagworten Bundestag, CDU