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Donnerstag, 16. November 2006, 1:00 Uhr

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+++ weiter mehr als 9.000 Arbeitslose im Kreis +++ Agentur für Arbeit vermittelt Dumping-Arbeitsplätze +++

Von Olaf Harning | Trotz deutlicher Entspannung auf dem sogenannten Arbeitsmarkt waren im Bereich der Norderstedter Arbeitsagentur auch im Oktober 2006 noch 3.790 Menschen ohne (bezahlte) Arbeit. Immerhin ein Minus zum Vorjahr, vor dem Hintergrund der Hartz-Gesetze und ihrer trickreichen Änderungen in der Erfassung von Arbeitslosen aber noch keinesfalls die herbei gesehnte Wende. Kreisweit entspannte sich die Situation indes deutlicher, wobei auch hier noch immer mehr als 9.000 Menschen arbeitslos gemeldet sind.
Dabei arbeiten die Agenturen schon lange nicht mehr nur mit seriösen Unternehmen zusammen. Einerseits finden sich in den Internet-Verzeichnissen der Bundesagentur für Arbeit Hunderte Dumping-Angebote, darunter auch viel illegale Arbeit. Andererseits hat auch konkret die Norderstedter Arbeitsagentur erst am 28. September wieder den umstrittenen Unternehmen der Zeitarbeitsbranche mit einem "Tag der Zeitarbeit" Gelegenheit gegeben, Arbeitslose für ihre meist unterbezahlten Arbeitsplätze anzuwerben. "Nicht ohne Erfolg", wie allerdings der Norderstedter Agentur-Leiter Holger Jung anmerkt: Erst kürzlich habe ein großer Gabelstapler-Hersteller im Ort 100 von zuvor fast 400 eingesetzten Leihkräften fest eingestellt. Alleine 330 der zur Zeit 800 offenen Stellen seiner Agentur würden von der Zeitarbeitsbranche gestellt - übrigens überwiegend hochqualifizierte Posten.
Wie die Norderstedter Zeitung (NZ) in ihrer Ausgabe vom 24. Oktober berichtete, lädt Martin Greiner, Leiter der Agentur in Kaltenkirchen, indes regelmäßig Firmen in sein Amt ein, um ihnen dort Gelegenheit zu geben, offene Arbeitsplätze für "Geringqualifizierte" vorzustellen. Alleine in seinem Bereich sollen für diese Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern knapp 100 Arbeitsstellen unbesetzt sein. An sich eine interessante Idee, wäre da nicht die meist fatale Entlohnung der Arbeit, beispielsweise in Warenlagern oder Call-Centern. Auch aus diesem Grund lässt man in Norderstedt von derartigen Unternehmen lieber die Finger, bzw. verzichtet auf Vorstellungs-Events wie in Kaltenkirchen. Nicht ohne Verständnis für seine "Kunden" erinnert sich Holger Jung noch an die Probleme der Sommermonate, als man die Erntehelfer-Jobs nicht oder kaum besetzen konnte. Jung: "Zu wenig Geld für zu harte Arbeit". So hätten es jedenfalls die meisten Betroffenen gesehen.
In Kaltenkirchen ist man anders davor: Jungunternehmen U-Serv bietet laut NZ mit Greiners Unterstützung 900 Euro Festgehalt, um in einer 40-Stunden-Woche Zähler für E.on-Hanse abzulesen - das entspricht rund 5 Euro pro Stunde. "Bis über 1.400 Euro brutto" könne man bei U-Serv verdienen, wenn man in einer Art Akkord-System Leistung zeige, so Firmensprecher Peter Lange in der Norderstedter Zeitung. Für den gleichen Job erhielten E.on-Hanse- bzw. HeinGas-MitarbeiterInnen bislang etwa 1.500 Euro/Monat - ohne leistungsabhängige Komponente und zuzüglich zahlreicher tariflicher Nebenleistungen, das jedenfalls berichtete ein früherer HeinGas-Betriebsrat dem Info Archiv.
Kritik an seiner Art der Billiglohn-Vermittlung wehrt Agentur-Leiter Greiner ab: "Vermittlungsarbeit beschränkt sich nicht darauf, die Leute glücklich zu machen. Wir haben einen klaren, gesetzlichen Auftrag. Viele Berufsgruppen wären mit 900 Euro, also früher 1.800 D-Mark, sehr zufrieden - beispielsweise Frieseure". Außerdem gebe ihm der Erfolg recht, schließlich habe seine Agentur in der Arbeitslosenquote gerade letzten Monat den Norderstedter Bereich überholt. Überflüssig zu erwähnen, dass die Region Kaltenkirchen auch kreisweit führend in der Einrichtung von 1-Euro-Jobs ist, der wohl perfidesten Art der Ausbeutung von Arbeitslosen.
Derweil täuscht auf Bundesebene auch die Große Koalition vor, was schon unter Rot-Grün nicht gestimmt hat: Dass man es nämlich in Deutschland mit einer "strukturellen Massenarbeitslosigkeit" zu tun habe, also lediglich "Angebot" und "Nachfrage" auf dem Arbeitsmarkt nicht zusammen passen. Tatsächlich ist das Problem weit tief greifender: Auch im gerade abgelaufenen Oktober waren wieder 4,08 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet, dagegen standen - und das wird aktuell als Rekordzahl gefeiert - gerade 626.000 offene Stellen. Selbst notorische Optimisten können aus diesen - bereits geschönten - Zahlen herauslesen, dass damit im Oktober für etwa 3,5 Millionen Menschen schlicht keine (bezahlte) Arbeit angeboten wurde, und wenn die Betroffenen noch so gebildet und passgenau qualifiziert wären.
Umso bedenklicher die peinlichen Versuche Dritter, aus dem Elend von Arbeitslosen Kapital oder eine eigene Existenz zu schlagen: So berichtete am 26. Oktober wiederum die "Norderstedter Zeitung" über das beinahe schon groteske "Konzept" "Fit, Family, Future (FiFaFu)", das die beiden Tangstedter Hans von Lessel (59) und Holger Kahl (54) erdacht haben und nun zu verkaufen trachten. Unter dem Titel "Abspecken für einen Job" stellen sie ihre "Idee" vor, nach der viele Arbeitslose lediglich etwas an ihrem Äußeren arbeiten müssten, schon würden ihre Chancen auf einen freien Arbeitsplatz deutlich steigen: So hätte ein von ihnen beratener Staplerfahrer erst nach deutlicher Gewichtsabnahme einen Arbeitsplatz erhalten können - weil er andernfalls "die Gabelstapler-Sitze verschlissen" hätte! Einer Schuhfachverkäuferin hingegen hätten ihre "fettigen Haare" bei der Arbeitssuche im Weg gestanden. Es spricht für sich, dass nach der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Lauenburg auch die Agentur für Arbeit in Elmshorn Interesse an solch offensichtlichem Unfug zeigt: "Auch hier (in Elmshorn d.Red.) sind wir auf offene Ohren gestoßen", frohlockt von Lessel. FiFaFu eben.
Von derart abstrusen Krisenerscheinungen abgesehen verkünden die Agenturen für Arbeit dieser Tage positive Entwicklungen. So sanken die Arbeitslosenquoten in den Bereichen Kaltenkirchen (von 6,7% auf 6,4%), Bad Segeberg (von 7,2% auf 7,0%) und auch kreisweit (von 6,9% auf 6,8%). Im Kreis Segeberg ist lediglich Norderstedt von dem Trend nicht erfasst: Trotz zahlreicher Neuansiedlungen größerer Unternehmen stieg die Arbeitslosenzahl leicht um 9 Betroffene, die Quote stagniert bei 6,7%. Gegenüber dem Vorjahresmonat allerdings ist die Arbeitslosigkeit auch in Norderstedt von 7,5% auf 6,7% gesunken. Trotz des Positiv-Trends suchten im Oktober noch immer 9.211 Menschen im Kreis Segeberg eine (fair bezahlte) Arbeit. Umsonst oder schlecht bezahlt kann man nach wie vor überall arbeiten gehen.

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