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Donnerstag, 26. August 2004, 2:00 Uhr

Barriere / Karriere

Was Ex-Punks heute so treiben

der nestscheißer | Rajas Thiele war bis 1992 Sänger von Razzia, der nach Slime bekanntesten Langenhorner Punkband aus den legendenumwobenen 1980er Jahren. Heute ist er der Groß-Organisator des Spectaculums, des allsommerlichen Norderstedter Stadtfestes, wo Alkopop-, Bier- und HardalktrinkerInnen einträchtig zusammen saufen und primär dem deutschen Schlager lauschen.

Aber der gute Rajas sah sein Festival ob der vielen Menschen, welche sich vorher im Supermarkt oder an der Tanke mit Stoff eingedeckt hatten um danach Gaby Baginskys Rum von Barbados zu lauschen, bedroht. Daher rief der Herr und Meister zum teuren Konsum auf, mensch solle sich sein Bier und seine Currywurst auf dem Festival (teuer) erwerben und nicht von anderswo mitbringen, sonst wären Qualität (Gaby Baginsky, 9. Platz bei der deutschen Grand Prix-Ausscheidung (sic!) 1981 und Norderstedts Lokalmatador Heppo Steel) und kostenloser Eintritt in Zukunft nicht mehr haltbar. Thiele im O-Ton: "Sie gehen ja auch nicht in ein Restaurant mit einer Kiste Bier unter dem Arm". Ein klarer Fall von sozioökonomischen Wahrnehmungsstörungen will mensch meinen. Da bricht, angeregt durch die von Kapital und Regierung angeheizte Deflationsspirale die Massenkaufkraft weg, viele Menschen können sich nur noch kostenlose Vergnügungen plus Dosenbier leisten und ein ehemals sozialkritischer Expunk betreibt KonsumentInnenschelte, wirft Menschen Undankbarkeit vor, wenn sie von ihrem wenigen Geld nicht bereit sind, ein Bier für vier Euro zu bezahlen. Sinkende Reallöhne und Massenarbeitslosigkeit sind schließlich nicht Probleme, über die sich ein Kleinunternehmer und Marketingprofi tiefer und an die Wurzeln gehend Gedanken macht, würde dies doch bedeuten, die eigene Position in Frage zu stellen, die eigene Stellung im gesellschaftlichen Produktions- und Distributionsprozess innerhalb einer Gesellschaft, in welcher alles tendenziell Warencharakter annimmt, anzugreifen. Das macht Rajas Thiele, früher Teil einer Bewegung, in welcher Prinzipien wie "Do-It-Yourself" und Unkommerzialität hochgehalten wurde, heute nicht mehr, sondern ist in der Geschäftsführung einer Eventagentur für die Bereiche Marketingevents, Veranstaltungen und Bühnenproduktionen und Event- und Messecatering zuständig. Zu den nächsten Events zählen übrigens der 50. Jahreskongress der Fachgruppe Kleintierkrankheiten der DVG und die Norderstedter Autoshow; mensch darf gespannt sein. In diesem Zusammenhang ist es durchaus angebracht, sich noch einmal alte Razzia-Platten anzuhören - allein um zu vergleichen, wie Menschen unter dem Druck der Verhältnisse ihre Meinung ändern: Zwischen Liedern wie Barriere/Karriere und BRD-& Co.KG von der LP Tag ohne Schatten von 1983 und heutigen Statements liegen Welten. Daher hier noch einmal ein Razzia-Text im Original, gesungen von Rajas Thiele bei seinem vorletzten öffentlichen Auftritt als Razzia-Sänger am 27.02. 1992 in der Fabrik, Hamburg: Ihr verscheuert eure Zeit fuer Glasperlen und fuer Tand Kitschfiguren und Hampelmaenner von Blendern leicht genarrt Es lebe lang der Wegwerfmensch und stuetze das System, das ihn auskotzt wenn er kann nicht mehr zur Arbeit gehen Fast jeder will was Massen wollen - Die Massen wollen, dass man ihnen gibt Dass man ihnen gibt, dass sie sich fuehlen - wie man es will, nicht wie sie sind Der Traum vom suessen Leben wird ihnen taeglich praesentiert und du frisst die Scheisse, die die Welt serviert Kranke Geister - kranke Leiber, der Blick total bizarr jeder Morgen in der Kantine laeutet ein neues Sterben ein! Fast jeder will was Massen wollen - Die Massen wollen, dass man ihnen gibt Dass man ihnen gibt, dass sie sich fuehlen - wie man es will, nicht wie sie sind (Razzia: Kranke Geister, Kranke Leiber; auf: Razzia Live, 1993) Razzia-Diskographie: Tag ohne Schatten (1983) Los Islas Limonados (1985, EP) R.I.A. (1986, Tape) Ausflug mit Franziska (1986) Menschen zu Wasser (1989) Spuren (1991) Live (1993) ab hier ohne Rajas Thiele Labyrinth (1995) Augenzeugenberichte (1999) Relativ sicher am Strand (2002)

Veröffentlicht in Kultur mit den Schlagworten Norderstedt, Punk, Rajas Thiele, Spectaculum