+ + + ARCHIVIERTER INHALT + + +

Diese Seite kommt aus unserem Archiv und enthält möglicherweise Informationen, die nicht mehr aktuell sind. Bitte beachten Sie das Veröffentlichungsdatum dieser Seite.

Samstag, 15. Januar 2005, 1:00 Uhr

Billig auf Kosten der Beschäftigten

System Lidl - Ist Geiz wirklich geil?

Von Astrid Jodeit | Donnerstagmorgen am Kohfurt nahe dem Herold Center: Der Parkplatz des Lebensnmittelriesen ist schon recht gut gefüllt. An Kunden mangelt es dem Unternehmen mit dem gelben Logo offensichtlich auch in der fünftgrößten Stadt in Schleswig-Holstein nicht. Bereits wenige Monate nach der Filialeröffnung im Ortsteil Garstedt konnte die Unternehmensgruppe den Norderstedter Standort durch einen Neubau auf 1400 Quadratmeter erweitern. Lidl hat sichtbar Erfolg- auch in Norddeutschland. Und das wird vermutlich auch so bleiben: Ansteigende Arbeitslosenquoten bei zugleich schrumpfender sozialer Absicherung tragen das ihre dazu bei, dass immer mehr Menschen darauf angewiesen sind, beim Billigdiscounter einzukaufen. Lidls unglaublicher Erfolg basiert aber nicht nur auf das Einkaufsverhalten der Menschen in Deutschland- Lidl ist billig auf Kosten der Beschäftigten.
Unlängst dokumentierte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in ihrem "SchwarzBuch Lidl" die Arbeitsbedingungen der MitarbeiterInnen in den rund 2500 deutschen Filialen des rasch expandierenden Discounters. Repräsentative, anonymisierte Interviews und Falldarstellungen zeigen in der Gewerkschaftsstudie auf, wie der Discounter Arbeitnehmer systematisch ausnutzt und unliebsame Mitarbeiter aus dem Unternehmen drängt "Bei Lidl ist der Druck brutal", berichtet eine Angestellte. "Wir müssen alles machen: Bestellung, Regale auffüllen, Kühlung abspachteln, Lagerarbeiten, putzen, kassieren. Oft war niemand da, der mich an der Kasse ablöste. Ich hatte nicht mal Zeit, auf die Toilette zu gehen. Wenn ich die Kasse verlassen hätte, hätte es eine Abmahnung gegeben. Manchmal kam ich nach Hause und hatte einen nassen Schlüpfer."
Eine Kassiererin, der schon bei der Einstellung bedeutet wurde, niemand sei hier zum Denken da, sondern nur zum Arbeiten, berichtet in dem Schwarzbuch von Beleidigungen und Drohungen: "Der Vertriebsleiter setzt die Verkäuferinnen und Filialverantwortlichen stark unter Druck. Einige Standardsprüche lauten: Sie sind zu blöd zum Bestellen ... Sie sollten aufhören zu arbeiten ... Es gibt über vier Millionen Arbeitslose, wollen Sie dazugehören?" Ausbeutung mit System: Chronische personelle Unterbesetzung, Arbeitszeiten bis zwölf Stunden am Tag, oftmals ohne Mittagspause, enorme Anforderungen und ständige Kontrollen haben zur Folge, dass bei Aldis hartnäckigstem Konkurrenten menschenwürdige Arbeitsbedingungen auf der Strecke bleiben. So haben Verkäuferinnen die Vorgabe, pro Minute 40 Artikel zu scannen. Außerdem müssen sie für höchste Sauberkeit sorgen. "Wir haben zwar keine Zeit, unsere Hände zu waschen, aber der Laden muss blitzen.
Vor einiger Zeit wurde das Reinigungsrepertoire erweitert: Regalränder werden nun mit Zahnbürste und Schwamm geschrubbt. "Nach Ladenschluss, versteht sich, und ohne Handschuhe, die Lidl zwar im Sortiment führt, aber seinen Mitarbeitern weder für die Reinigungsarbeiten noch für das Auspacken der Ware stellt. Taschenkontrollen sind an der Tagesordnung, und auch Videoüberwachung sowie die Durchsuchung von Spinden und Privatautos der MitarbeiterInnen gehören bei Lidl zum Alltag. "Das Personal verlässt die Filiale, woraufhin Kontrolleure vorfahren, die in alle Taschen und Körbe der Beschäftigten gucken. Schlecht für die, die ausgerechnet an solchen Tagen in der Filiale eingekauft haben; da wird dann jeder Artikel mit dem Kassenbon verglichen."
Für seinen "nahezu sklavenhalterischen Umgang" mit Beschäftigten hat Lidl im letzten Jahr bereits den Big Brother Award verliehen bekommen. Die Jury, der Datenschützer und Menschenrechtler angehören, monierten unter anderem die Praxis, Mitarbeiter durch Testkäufer auf die Probe zu stellen. Im Einkaufswagen seien Artikel versteckt worden, etwa im toten Winkel, der für die Kassiererinnen schlecht einsehbar sei. Wer in die Falle geht, wird abgemahnt. Drei Abmahnungen, Rauswurf. "Ein übliches Mittel, Beschäftigte der höheren Gehaltsstufen oder Gewerkschaftsmitglieder aus dem Job zu drängen", sagte Big-Brother-Laudatorin Rena Tangens bei der "Preisverleihung".
Seit Jahren ist ver.di, bemüht bei Lidl Betriebsräte zu installieren. Bisher hat das verschachtelte, in bis zu 600 einzelne GmbHs aufgegliederte Unternehmen solche Versuche meist erfolgreich abgeblockt: Im gesamten Firmenimperium gibt es nur sieben kleine Betriebsräte. "In Duisburg hat man Kollegen so unter Druck gesetzt, dass sie auf die Gründung eines Betriebsrates verzichtet haben", sagt einer der wenigen Betriebsratschefs bei Lidl. "Auch wir erlebten unglaubliche Dinge. Als die Wahl nicht mehr zu verhindern war, versuchte das Unternehmen, die Wahl zu manipulieren."
Und in Norderstedt ? Wer journalistisch zum Thema Lidl recherchieren möchte, erlebt die eine oder andere Überraschung. Die einzelnen Filialen sind in keinem Telefonbuch verzeichnet und lassen sich auch nicht über die Auskunft zu ermitteln. Ein Anruf bei der Firmenzentrale ist auch nicht von Erfolg gekrönt. Einzelne MarktleiterInnen dürfen nicht kontaktiert werden. Wer Fragen hat, soll sich an die Pressestelle wenden. Die Nummer der Pressestelle ist aber über Tage nicht zu erreichen. Wer es schafft, durchzukommen, wird gebeten, die Fragen schriftlich einzureichen. "Dann könne darüber entschieden werden, ob das Unternehmen sich dazu äußern möchte." Sicherheitsstufen, die den Eindruck vermitteln, man befände sich in einem Nasa-Spionage-Film.
Donnerstagmorgen, Lidl-Filiale am Kohfurt: Ich frage eine Beschäftigte nach dem Marktleiter. Der ist nicht im Hause, fast hätte ichs mir denken können. Aber sein Vertreter ist bereit mit mir zu sprechen. Wieviele MitarbeiterInnen die Filiale hat, möchte ich eingangs wissen. Da kann mir der junge Mann nicht helfen. "Sowas über zwanzig", teilt er mit, und fügt hinzu, das wechsle ständig. Immer müssten Neue eingearbeitet werden. Ob es in Norderstedt einen Betriebsrat gäbe, will ich wissen. Er verneint, und auf die Frage, warum es keinen gibt, antwortet er schulterzuckend und sichtlich nervös: "Also, wir brauchen keinen. Das Geld kommt immer regelmäßig. Alle sind sehr zufrieden." Aha. Ich sehe mich um, einige Mitarbeiterinnen sind beschäftigt, Ware einzuordnen. Aber noch ehe ich eine von ihnen befragen kann, wird mir mitgeteilt, ich dürfe mich mit den MitarbeiterInnen nicht unterhalten. Wenn ich MitarbeiterInnen befragen wollte, müsse ich mich erst an die Zentrale wenden ... Ich weiß schon, und mein Anliegen schriftlich einreichen und dann wird darüber entschieden werden, ob das Unternehmen die Anfrage bearbeiten will, schon klar.

Lidl Norderstedt: Natürlich billig

Veröffentlicht in Arbeit & Kapital mit den Schlagworten Norderstedt, Schleswig-Holstein, ver.di