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Donnerstag, 21. September 2006, 2:00 Uhr
Experten sagen "Njet!"
"Gesundheitsreform": Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung?
Von Olaf Harning | Zunächst ein paar Hintergründe: Kernpunkte der im Juli beschlossenen Reform sind im Wesentlichen der neu einzurichtende Gesundheitsfonds, die Steuerfinanzierung der Kinderversicherung und die ausdrückliche Nichteinbeziehung anderer Einkommen zur Finanzierung der Gesundheitskosten. Aufgrund zahlreicher handwerklicher Unzulänglichkeiten an den einzelnen Reformpunkten und sicher auch wegen der vielfältigen Kritik an den Beschlüssen, wurden der Start des Reformwerks zuletzt vom Januar auf den April 2007 verlegt, aktuell steht sogar Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zur Disposition.
Kernpunkt ?Gesundheitsfonds?
Als Schwerpunkt der "Reform" muss wohl die Gründung eines Gesundheitsfonds bezeichnet werden. In diesen Fonds sollen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen, letztere aber mit einer Kappungsgrenze: Alles darüber hinaus tragen die Arbeitnehmer allein. Dazu kommt ein kleiner aber wachsender Steueranteil, andere Einkommensarten (etwa Spekulationsgewinne) sowie die Beiträge der Privatversicherten bleiben weiterhin außen vor. Die wie selbstverständlich auftretende Unterdeckung "dürfen" die Kassen künftig mittels Zusatzbeiträgen bei den Versicherten eintreiben, außerdem werden zur Zeit künftige Beitragshöhen von bis zu 16% diskutiert (heute durchschnittlich 14,2%). In der Qualität ihrer Arbeit steht die Große Koalition ihrer Vorgängerin Rot-Grün in nichts nach: Ähnlich wie schon die Hartz-Gesetze bewerten ExpertInnen aller politischen Lager das bisherige Reformmodell als "bürokratisches Monster" und "handwerklich katastrophal". Beispiellos: Der Deutsche Gewerkschafts Bund (DGB) und der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber (BDA) forderten Ende August gemeinsam die Beibehaltung der Kassen-Selbstverwaltung.
Steuerfinanzierung der Kinderversicherungen
Ziel der Reform ist, dass die Mitversicherung von Kindern künftig zu 100% aus den Steuereinnahmen bestritten wird und damit überwiegend von genau denjenigen, die ohnehin schon mehr für ihre eigene Gesundheit zahlen müssen: Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Eingeführt wurde allerdings ein Stufenmodell, das zunächst nur 1,5 Milliarden Euro Mittel statt benötigte 16 Milliarden Steueranteil vorsieht. Gleichzeitig wird den Kassen ein großer Posten bisheriger Steuerzuschüsse wieder genommen: 4,5 Milliarden Euro aus der Tabaksteuer landen nicht mehr - wie bisher - im Gesundheitssystem, sondern im - wie Matthias Maurer es unlängst nannte - "Nirgendwo des Bundeshaushalts".
Privatkassen
Entgegen den Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden und auch im Widerspruch zum Grundgedanken einer "Bürgerversicherung" werden die Privatversicherten nicht in den Gesundheitsfonds einzahlen. Einziger Wermutstropfen für die Profiteure des deutschen Gesundheitssystems: Privatkassen müssen jetzt "Jeden" nehmen und auch säumige Selbstständige wieder aufnehmen, die einmal ihren Beitrag nicht zahlen konnten.
Falsche Weichenstellung?
In der Mitgliederzeitschrift der HZK "Unter einem Dach" äußerte sich vor einigen Tagen auch der HZK-Verwaltungsratsvorsitzende Matthias Maurer öffentlich zur Gesundheitsreform. Maurer ist Zimmerer-Meister und Betriebsrat beim Branchenriesen Hochtief Constructions in Hamburg, aber auch stellvertretender Vorsitzender im Arbeiter Ersatzkassen Verband e.V. - einer also, der es wissen muss. In seinem Artikel "Falsche Weichenstellung" kritisiert Maurer vor allem, dass die paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems aufgeweicht- und die "Erfolgsgeschichte" der Selbstverwaltung der Krankenkassen in Deutschland einem Koalitionskompromiss geopfert werde. Dabei sei die Ursprungsidee des Gesundheitsfonds gar nicht so verkehrt: "Der Grundgedanke des Fonds war, alle Versicherten finanziell zu beteiligen, also auch die privat Versicherten. Kern der jetzigen Planungen ist aber, dass die Privaten außen vor bleiben, das System nicht mitfinanzieren müssen." Dabei hatte Maurer den Gesundheits-Diskurs mit der Hoffnung begleitet, "dass das Grundübel unserer Gesundheitsfinanzierung, dass sich nämlich Menschen ab einem gewissen Einkommen aus den solidarischen Systemen herausoptimieren können, dass dem ein Ende bereitet wird. Zumindest bei allen notwendigen medizinischen Leistungen sollten keinerlei Unterschiede mehr herrschen. "
Davon ist man mit der aktuellen Reform jedoch weit entfernt. Durch die faktische Einführung einer Kappungsgrenze für den Arbeitgeberanteil am Gesundheitssystem, wird sich - so Maurer - die Finanzierung weiter zu Lasten der Arbeitnehmer entwickeln: "Das kann natürlich auf eine Zweiklassenmedizin hinauslaufen mit billiger Grundversorgung und teurerer Allround-Medizin." Udo E. Müller, Bezirksgeschäftsführer der DAK in Norderstedt, konkretisiert diese Einschätzung: "Was passiert jetzt: Die Kassen werden mit dem Geld nicht auskommen. Was passiert dann: Die Kassen müssen selber anziehen, die Bürger wenden sich an die Kassen, wo es am günstigsten ist, dort aber wird es nicht die komplette Palette der Leistungen geben." Die Folge werde sein, dass ein Großteil der Bevölkerung mehr ausgibt, während diejenigen, die sich das nicht leisten können einfach schlechter versorgt werden: " Der Kranke ist dabei immer auf der schwächeren Seite und neigt dazu, anders als im Supermarkt - das angeblich bessere und damit teurere Produkt zu kaufen, daher ist mit Kostensteigerungen unbedingt zu rechnen", meint Matthias Maurer.
Die Arbeitgeber-Kappungsgrenze kritisiert auch Müller scharf: "Wenn man diese Parität verändert und damit Solidarität und Gleichbehandlung nicht mehr durchführt, haben irgendwann Arbeitnehmer die volle Belastung alleine zu tragen. Wir wollen eine qualitativ bessere Behandlung für alle haben. Da kann ich nicht einen Teil der Finanzierung herausziehen oder kappen. Außerdem resultieren Erkrankungen vielfach aus arbeitstechnischen Problemen: Wir diskutieren beispielsweise immer den Rückgang der Krankheitstage, auch darüber kann man streiten. Was aber auf jeden Fall zugenommen hat, sind psychosoziale Erkrankungen. In Norderstedt sprechen wir hier über eine Zunahme von 10% allein im letzten Jahr."
Beide Gesundheits-Politiker befürchten überdies einen völlig fehlgeleiteten Wettbewerb. Maurer gegenüber dem Info Archiv: "Das angebliche Ziel des höheren Wettbewerbs um gute Kassenleistungen wird abgelöst vom Wettbewerb um einträgliche Risikogruppen, also um junge, gesunde Menschen." Nach Einschätzung des HZK-Experten "hat der jetzt geplante Fonds den Sinn, eine staatsnahe medizinische Grundversorgung zu organisieren." Qualitativ hochwertigere Betreuung gäbe es dann irgendwann nur noch bei den Privaten. So befürchtet Maurer als eine der ersten Folgen der Reform eine weitere Konzentration der Kassen und damit den Rückzug des Gesundheitssystems aus berufsspezifischen Angeboten. Das passe auch zur Auflösung der bisherigen Selbstverwaltung der Kassen: "Nach Fondsgründung", so Maurer, "sollen die Selbstverwaltungs-Strukturen völlig aufgelöst- und durch ein politisch gelenktes ? und vor allem: fachfremdes - Gremium abgelöst werden. Hier plant die Politik den direkten Eingriff in den Leistungskatalog der Krankenkassen."
Das sorgt auch bei Müller für Kopfschütteln: Statt einer bewährten Struktur werde ein "bürokratisches Monster" geschaffen, das überdies auch noch jede Menge Arbeitsplätze vernichtet: "Alleine bei der DAK sind schätzungsweise 4.000 von insgesamt 15.000 MitarbeiterInnen gefährdet, bundesweit rechnen wir mit bis zu 30.000 Arbeitsplätzen, die durch die Gesundheitsreform bei den Kassen entfallen." Hintergrund: Mit der Auflösung der Selbstverwaltungsstrukturen wird den Kassen auch der Beitragseinzug genommen, und das bei einer bisherigen Fehlerquote von unter 0,5%. Dieser Einzug soll künftig von einer neu einzurichtenden Behörde aus erfolgen. Maurer warnt: "Die Kassen werden ohnehin gezwungen sein, in arbeitsintensiven Einzelfällen weiter selber Beiträge einzuziehen, die bürokratischen Kosten werden also immens sein. Dass jede Möglichkeit verloren geht, auf persönliche Besonderheiten einzugehen, versteht sich von selbst."
Beide Experten bezweifeln die bisher genannten finanziellen Rahmendaten: Udo Müller: "Man sagt, man will Kosten sparen, aber ab dem 1. April 2007 wird eine Beitragserhöhung von 0,5% gleich mit einkalkuliert. Außerdem: Mehr als 900 Millionen Euro zusätzliche Kosten kommen durch die Mehrwertsteuer-Erhöhung auf die Kassen zu, gleichzeitig werden uns 4,5 Milliarden Euro aus der Tabaksteuer entzogen, das klappt so nicht. Nebenbei: Deutschland ist das einzige Land, dass auf Medikamente die volle Mehrwertsteuer erhebt."
Alternativen können Maurer und Müller zuhauf nennen. So sagt der HZK-Experte: "Die Sozialversicherungspflichtgrenze hätte fallen müssen, dann hätte man nicht mehr aufgrund eines höheren Verdienstes wechseln können. Die Privatversicherungen hätten sich dann eben nur noch auf Selbstständige und Beamte spezialisieren- oder medizinische Nebenleistungen wie Chefarztbehandlung oder das Einzelzimmer im Krankenhaus anbieten können. Diese Bereiche kann man ? denke ich ? gefahrlos dem Markt überlassen." Außerdem hält Maurer es für "", weiter für die paritätische Finanzierung der Gesundheit zu streiten. Auch Müller nennt das als eine Hauptforderung: "Was gesamtgesellschaftlich verursacht wird, muss gesamtgesellschaftlich geschultert werden."
Und auch bezüglich der hohen Medikamenten-Kosten sind sich beide Gesundheits-Politiker einig: Hier geht einiges nicht mit rechten Dingen zu. Auch wenn Matthias Maurer anmerkt, dass das im vergangenen Jahr eingeführte Arzneimittelwirtschaftlichkeitsgesetz erste Erfolge in Sachen Kostendämpfung verzeichnet, weisen sowohl die DAK, als auch die HZK ihre Mitglieder regelmäßig auf Online-Apotheken hin, wo meist die gleichen Medikamente wesentlich günstiger zu haben sind: "Zumindest für Chroniker, die ihre Medikamente kennen", so Udo Müller, "ist das eine empfehlenswerte Alternative." Die HZK hatte schon vor Jahren als eine der ersten Kassen den Internet-Anbieter Doc Morris offensiv empfohlen, bis zu 9% ist heute der Anteil der Internet-Medizin am Gesamtmarkt. Zwar habe die Pharmaindustrie unbestritten hohe Forschungskosten, gebe aber seltsamer Weise zwei Drittel mehr Geld für Marketing aus, als für eben diese Forschung.
Man merkt es an der engagierten Argumentation: Noch haben die Kassen die öffentliche Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform nicht aufgegeben, noch gibt es Hoffnung, die größten Negativpunkte für die Versicherten abzuwenden oder zumindest aufzuweichen. Auch aus diesem Grund informieren derzeit fast alle Kassen ihre Mitglieder über den Sachstand und die Position der KritikerInnen. Dazu Udo Müller: "Wir werden sowohl auf Verbandsebene, als auch als einzelne Kasse selbst dazu Stellung nehmen. Ich kann nur jedem Kassenmitglied empfehlen, seinem Abgeordneten zu sagen, wie er zu der Reform steht. Nach einer aktuellen Umfrage sind 80% der Menschen in Deutschland gegen die Gesundheitsreform. Zeit sie zu überdenken."
Will sich nicht "aus dem soldiarischem System herausoptimieren": Matthias Maurer Mitte September vor Mitgliedern der IG BAU Hamburg-Nordwest