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Freitag, 30. Januar 2015, 9:29 Uhr

"Fahrradunfreundlichste Verkehrsanlage in Deutschland"

Negativ-Preis für den Knoten Ochsenzoll

Radfahrer auf dem Zebrastreifen am Kreisel.

Kein Radweg, nirgends. Soweit es überhaupt Wege für sie gibt, sind Radler am Kreisel Ochsenzoll auf Zebrastreifen angewiesen. In Nord-Süd-Richtung ist eine Querung für sie nur mit minutenlangen Umwegen möglich (Foto: Infoarchiv)

Olaf Harning | Schon seit seiner Eröffnung im Oktober 2013 steht der für 15 Millionen Euro ausgebaute Verkehrsknoten Ochsenzoll in der Kritik. Jetzt ist Norderstedt für sein Bauwerk mit dem bundesweiten Negativ-Preis "Pannenflicken" ausgezeichnet worden - in Gold.

Kreisel aus großer Entfernung fotografiert

Der umstrittene Ochsenzoll-Kreisel (Foto: Infoarchiv).

"Wir haben schon viele unsinnige und gefährliche Radverkehrsführungen gesehen", erklärten die Juroren von der Initiative "Cycleride" schon anlässlich der Nominierung des Knotens für den Pannenflicken. "Eine derart einseitig ausschließlich auf die Belange des Kraftverkehrs ausgerichtete Gestaltung eines Verkehrsknotens aber, verschlägt auch uns beinahe die Sprache". Aber eben nur beinahe, und so legt die Initiative gut zwei Monate später noch einmal nach, verleiht der Stadt Norderstedt für ihre größte und teuerste Kreuzung den ungeliebten Negativ-Preis. Der wird nun schon seit 2006 vergeben und "straft" Kommunen, Kreise und auch mal Bundesländer für besonders grobe Missachtungen der Belange und der Sicherheit von Radfahrern.

Der Pannenflicken

 

Cycleride ist eine bundesweite Initiative von Radfahrern für eine praxistaugliche Verkehrspolitik. Hauptanliegen ist es, mehr Sicherheit, Toleranz und Verständnis im Radfahrer-Alltag zu erwirken.

 

Schon seit 2006 verleiht Cycleride dazu den Pannenflicken in Gold, Silber und Bronze, um besonders untaugliche Verkehrsführungen zu brandmarken und einen kritischen Blick auf autozentriertes Bauen zu schaffen. In diesem Jahr erfolgt die Verleihung des Negativ-Preises erstmals in Kooperation mit dem Verbund Service und Fahrrad (VSF).

 

Nominierungen für den Pannenflicken kann jedermann schicken an pannenflicken@cycleride.de, zusammen mit einer schlüssigen Erklärung und mindestens fünf Fotos.

Hauptkritik an der Verkehrsführung des Knotens: Viel zu schmale Rad- und Fußwege bei gleichzeitig überbreiten Fahrbahnen, ein Tunnel für Fußgänger und Radler mit engen Zufahrten und scharfen Kanten, der vor einer Betonwand endet, sowie die gänzlich fehlende Querungsmöglichkeit im Osten des Knotens. Durch diese Mängel stehen dem Radverkehr von insgesamt 12 möglichen Wegebeziehungen gerade einmal sieben zur Verfügung - zumindest mit annehmbarem Aufwand. Um beispielsweise aus der Langenhorner Chaussee kommend links in die Segeberger Chausse abzubiegen, sollen Radler erst gut 100 Meter in die Gegenrichtung fahren, dort bis zu drei Minuten an einer Ampel warten, zum Kreisel zurückfahren, dort absteigen und zu Fuß die Zebrastreifen überqueren. Während sich Autofahrer meist nur wenige Sekunden im Kreisel aufhalten, kann die Prozedur für Radler so schon einmal vier Minuten dauern. Und überhaupt gibt es am Kreisel keine einzige Querungsmöglichkeit für Radfahrer, die gängigen Standards oder Richtlinien entspricht. Sämtliche Radwege am Kreisel führen an den vorhandenen Querungen vorbei - will der Radler trotzdem "rüber", muss er absteigen und schieben.

Kritiker des Verkehrsprojektes fühlen sich daher durch den "Pannenflicken" bestätigt. "Wer beim Bau des Ochsenzoll-Kreisels den motorisierten Individualverkehr zu Lasten des Rad- und Fußverkehrs bevorzugt, muss sich über diesen Preis nicht wundern", sagt etwa GRÜNEN-Fraktionschef Detlev Grube. Und DIE LINKE erinnert an ihren Antrag auf zusätzliche Querungen, der im Stadtentwicklungsausschuss auf Eis gelegt wurde. Im Rathaus hingegen vermeidet man jede offizielle Reaktion auf den Negativ-Preis, will den neuerlichen Wirbel so schnell als möglich vergessen. Trotz der ansehnlichen Mängelliste, die in großen Teilen auch durch ein nachträgliches Sicherheitsaudit bestätigt wurde, hatte die Verwaltung erst im September wieder klargestellt, dass Umbauten von allen drei Baulastträgern - Stadt, Land Bund - abgelehnt würden. Zudem müsse im Falle einer Umgestaltung das gesamte Planungsverfahren wieder aufgerollt werden. Selbst bei überschaubaren Eingriffen wie einer zusätzlichen Querung, kämen so schnell Kosten von fast einer Million Euro zusammen. "Wir haben wiederholt dargelegt", so Baudezernent Thomas Bosse kürzlich gegenüber der Norderstedter Zeitung, "warum aus unserer Sicht alles bleibt, wie es ist. Und daran ändert sich auch jetzt nichts."

"... nicht sicherheitsrelevant"

 

Über Monate hatte die Kommunalpolitik 2013 über den Knoten Ochsenzoll gestritten, erst im November einigte man sich schließlich auf einen Vorschlag der LINKEN, den Kreisel einem nachträglichen Sicherheitsaudit zu unterziehen. 

 

Gut vier Monate später listete Auditor Uwe Wilma, Diplom-Ingenieur in Diensten der Argus Stadt- und Verkehrsplanung dann auf 19 Seiten Fehler und Mängel auf, untersuchte kleinteilig mögliche Gefahrenquellen der Verkehrsführung. Dabei stellte er unter anderem Mängel im Blindenleitsystem und in den Sichtbeziehungen des Kreisels fest, eine fehlerhafte Radwegeführung in Ost-West-Richtung und zu schmale Radwege.

 

In den "großen Fragen" des Knotens hielt Wilma sich allerdings bedeckt. Die Tatsache, dass für Radler nur sieben der zwölf "Wegebeziehungen" am Kreisel möglich sind, ist seiner Ansicht nach "nicht sicherheitsrelevant". Gleichzeitig hob er im Ausschuss hervor, dass Radfahrer dort auffällig oft auf der falschen Seite fahren - was Unfallgefahren berge. Dass es da einen Zusammenhang geben könnte - auf diesen Gedanken kam der Auditor nicht.

Viele Mängel und keinerlei Bewegung bei den Planern: Da überrascht es wenig, dass Tunnel und Kreisel bei den Juroren des diesjährigen "Pannenflicken" aus dem Stand im Favoritenfeld landeten: "So viel Ignoranz gegenüber dem fließenden Radverkehr, der Verkehrssicherheit, den Baurichtlinien und den Verkehrsregeln", schreibt der externe Juror Bernd Sluka, "findet man selten auf einen Haufen". Gleich mehrere Verordnungen, Regeln und sonstige Vorschriften seien am Ochsenzoll missachtet worden - "deswegen", so Sluka in seiner Beurteilung von insgesamt 14 für die Auszeichnung vorgeschlagenen Bausünden, "ist diese Nominierung mein Favorit". Weil es die übrigen Juroren der Initiative Cycleride ähnlich sahen, hat die Stadt Norderstedt jetzt nicht nur ein paar nörgelnde Radfahrer im Nacken, sondern macht mit ihrem Knoten ein weiteres Mal Schlagzeilen. Von einem Preis für die "fahrradunfreundlichste Verkehrsanlage in Deutschland" berichtete der NDR noch am Donnerstag, kurz nach der gescheiterten Verleihung des Pannenflicken. Weil sich im Rathaus niemand fand, der die Auszeichnung entgegennehmen wollte, wurde er schließlich im Briefkasten der Stadt deponiert.

Eine Bilderserie zum Knoten Ochsenzoll haben wir hier bereitgestellt.

Immerhin: Seit Fertigstellung des Knotens ist es am Ochsenzoll zu keinem schweren Unfall gekommen. Ein gewichtiges Argument, das sowohl Bosse, als auch Polizeisprecher Kai Hädicke-Schories regelmäßig hervorheben. Grund dafür könnte allerdings auch sein, dass viele Radler den Kreisel weiträumig umfahren: Während andernorts in Norderstedt Radverkehrsanteile von bis zu 19 Prozent ermittelt wurden, sind bei einer Zählung am Ochsenzoll kürzlich nur 1.000 Räder notiert worden - bei 50.000 Kraftfahrzeugen im gleichen Zeitraum. Der Knoten ist also für Radler tabu und die Wenigen, die ihn trotzdem nutzen, fahren mal auf der falschen Seite, mal auf der Fahrbahn. Und vereinzelt auch mal so, wie es die Planer wollten.

 

 

4 Kommentare zu diesem Artikel

14.02.2015, 19:13 Uhr ErjotPannenflicken

Gruß an Selma, aber den Preis gibt es seid 2006, gestiftet von Cycleride.

Der ADFC hat sich nicht an der fertigen Verkehrsanlage abgearbeitet, sondern seid 2008 zahlreiche Mängel-Briefe geschrieben und mehrere Anfragen in der Stadtvertretung gestartet. Die Kritik an dem Kreisel wurde dem Stadtrat B. so lästig, dass er den ADFC 2Jahre später aus einer städtischen Arbeitsgruppe raus schmiss. Die Stadtvertretung zwang ihn, einen Sicherheits-Auditor zu bestellen, der für viel Geld zum gleichen Urteil wie der ADFC kam.

Im Bericht steht "sollen schieben". Das ist wirklich die Erfindung des
Stadtrates. Im Hamburger Abendblatt wurde er groß zitiert: "Radfahrer müssen absteigen". Er drohte sogar , die Polizei würde Bussgelder kassieren. Aber Gott sei Dank ist die Polizei dem Stadtrat nicht untertan, denn mit einem Bussgeld hätte sie sich unsterblich blamiert.
Inzwischen scheint er sich auch schlau gemacht zu haben, zumindest erwähnt er nichts mehr von "Schieben".

10.02.2015, 7:36 Uhr MarkusEs reicht

Diese ewigen Nörgler. Es ist nicht auszuhalten. Ich fahre Rad und Auto und man kann die Kreuzung gut queren. Seit Jahren hat sich da nichts getan und nun ist es gelungen. Danke an Danke Beteiligten. Und bitte zur Kenntnis nehmen: die schweigenden Masse findet es KLASSE.

31.01.2015, 2:50 Uhr Selma Bevor Du einen Orden annimmst ...

... sieh Dir die Stifter an! Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass der ADFC den Preis (extra für den Knoten Ochsenzoll?) gestiftet hat?
Bei aller berechtigter Kritik, ein Bauwerk so vorgestrig autofreundlich geplant und gebaut zu haben, sollte der ADFC seine Ressourcen nicht an fertige Verkehrsführungen verschwenden. Sonst wirkt es nur noch rechthaberisch - und nicht mehr im Dienste der Radfahrer.

30.01.2015, 13:28 Uhr FrancoisZebrastreifen und Radfahrer

Bei Bild 24 ist die Unterschrift falsch: "Den real existierenden Radfahrern ist das freilich egal, auch weil die Meisten gar nicht wissen, dass sie Zebrastreifen nur schiebend überqueren dürfen (Foto: Infoarchiv)."

Diese Aussage ist falsch und geistert immer wieder durch die Medien. Richtig ist, dass Fahrradfahrer (fahrend) kein Vorfahrtsrecht haben. Sie dürfen den Zebrastreifen aber sehr wohl fahrend überqueren und müssen nicht absteigen.