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Montag, 30. April 2007, 2:00 Uhr
Kohtla-Järve in Aufruhr
Russen auf den Barrikaden
Von Olaf Harning | Schon seit Donnerstag-Nacht kommt es in Tallinn zu schweren Krawallen, bei denen bislang ein Demonstrant ums Leben kam und Hunderte verletzt wurden. Neben Berichten, die Polizei hätte anfangs ? absichtlich - wenig unternommen, um die innenpolitisch möglicherweise nützlichen Krawalle zu begünstigen, folgten schnell Angaben über eine harte Gangart der Polizei. So ist es nach der dritten Krawallnacht in Folge neben vielen Verletzten mittlerweile zu etwa 1.000 Festnahmen gekommen.
Die massiven Proteste aus Reihen der russischen Minderheit (Bevölkerungsanteil: rund 25%) wurden durch die provokante Demontage eines bekannten Kriegerdenkmals in Tallinn ausgelöst, das für die RussInnen für den Sieg über Nazi-Deutschland steht. Die estnische Bevölkerung erinnert es hingegen an die lange russische Besatzungszeit, insbesondere an die Zeit der "Russifizierung" ab 1944, die zahllose politische Morde mit sich brachte. Für zusätzlichen Zündstoff sorgte aktuell die wenig behutsame "Umbettung" einiger zu Füßen des Denkmals begrabener Soldaten der Roten Armee, sowie die wohl kaum zufällige Wahl des Demontage-Zeitpunkts: Die Arbeiten sollen ausgerechnet am 9. Mai abgeschlossen werden, also an dem Tag, an dem Russland dem verlustreichen Sieg über Deutschland gedenkt.
Und die nächste Provokation steht bereits im Raume: Nach dem Abbau des Kriegerdenkmals denkt Estland offenbar auch an den Abriss der für die russische Minderheit bedeutende Alexander-Newski-Kathedrale - ein Schritt, der auch die orthodoxe Kirche vor den Kopf stoßen würde. Offensichtlich also besteht in Estland derzeit wenig Interesse an einer Versöhnung der beiden großen Volksgruppen. Auch deshalb stehen die Beziehungen mit dem großen Nachbarn Russland vor einer neuen Eiszeit. Schon wird darüber gemutmaßt, dass Putin den Botschafter abzieht, selbst ein Handelsembargo scheint denkbar.
Neben Tallinn wurden in den letzten Nächten auch aus Narva, und den Norderstedter Partnerstädten Kohtla-Järve und Johvi gewaltsame Proteste gegen die estnische Innenpolitik gemeldet. Dabei sollen Fensterscheiben eingeworfen- und Autos angezündet worden sein. In Tallinn wurden offenbar auch gezielt die Büros estnisch-faschistischer Organisationen angegriffen. Die Vorsitzende des Norderstedter Vereins Freunde von Kohtla-Järve und Johvi und Umgebung e.V. - Margot Bankonin ? hat solche Szenen bereits seit längerem befürchtet, zu sehr hatten die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zuletzt an Schärfe zugenommen. Dabei ist das ?Kräfteverhältnis? in Kohtla-Järve selbst förmlich auf den Kopf gestellt: In der 46.000 Einwohner-Stadt stellen Russen mit 80% die absolute Mehrheit, bis vor kurzem regierten deshalb auch russische PolitikerInnen im Rathaus.
Grundsätzlich sei aber die Lebensrealität der Russen auch in der Norderstedter Partnerstadt sehr schlecht. Dabei stellt ist auch die Staatenlosigkeit ein großes Problem. Da die Einbürgerung nur schwer erreichbar ist, die russische Staatsangehörigkeit aber regelmäßig in Russland bestätigt werden müsste, sind viele russische Esten De-facto-Staatenlose. Sie können daher staatliche Angebote nicht wahrnehmen und etwa auch nicht an Wahlen oder Abstimmungen teilnehmen. Kurz: Nachdem die russische Besatzungsmacht bis Ende der 80er Jahre bemüht war, das Land zu "russifizieren", scheint die estnische Regierung nun das genaue Gegenteil zu versuchen. Ein Weg, der das Land an den Abgrund führt.
Eine - zugegeben - schlechte Karte von Estland