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Dienstag, 18. Oktober 2011, 17:33 Uhr

Neofaschismus und Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein

Eine Große Anfrage der LINKEN

Aufmarsch von Rechtsextremisten in Bad Bramstedt (Foto: indymedia)

Aufmarsch von Rechtsextremisten in Bad Bramstedt (Foto: indymedia)

Björn Thoroe (Gegenwind) | Wenn in diesen Tagen viele Menschen entsetzt nach Mecklenburg-Vorpommern schauen, weil die rechtsextreme NPD dort mit 6% der WählerInnen-Stimmen den Wiedereinzug in den Landtag geschafft hat, dann ist das Anlass genug auch in Schleswig-Holstein einmal zu fragen, wie die Nazis hier aufgestellt sind. Die Fraktion DIE LINKE im schleswig-holsteinischen Landtag hatte schon im April eine Große Parlamentarische Anfrage zum Thema „Neonazis in Schleswig-Holstein“ eingereicht, die nun beantwortet worden ist. 

Allgemeine Bewertung:

In der Vorbemerkung der Landesregierung wird von „umfangreichen Informationserhebungen, Strukturanalysen, Lagebewertungen, Präventions- und Gefahrerforschungsmaßnahmen“ durch Polizei und Verfassungsschutz gesprochen, die Antworten spiegeln meines Erachtens diesen Umfang aber nicht ansatzweise wieder. Dies liegt nur im Einzelfall am Geheimnisschutz des Verfassungsschutzes. 

Es fällt weiterhin auf, dass die Landesregierung auf viele Fragen nur unzureichend antwortet. In vielen Fällen wird nur der Verfassungsschutz gefragt, es hätte aber mindestens auch die Polizei, das LKA und das Justizministerium gefragt werden sollen. Verglichen mit den Antworten auf eine Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Landtag Sachsen-Anhalt (LT-Drs. 5/2166), fallen die Antworten der Landesregierung viel kürzer und weniger umfassend aus. Viele werden inhaltlich überhaupt nicht beantwortet. Auch die schleswig-holsteinische Landesregierung ist eigentlich dazu verpflichtet, Fragen aller Abgeordneten nach bestem Wissen und vollständig und umfassend zu beantworten. 

Dass die Arbeit des schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzes eher eine Alibi-Veranstaltung ist, als dass sie Aufklärung betreibt, ist schon lange klar. Im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2010 wurde zum Beispiel mit der Nennung des Bündnisses „Gerecht geht anders“ in der Rubrik „Linksextremismus“ erneut deutlich: Der Verfassungsschutz Schleswig-Holstein macht Politik! Ein Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden, Parteien und Initiativen, das sich gegen den Sozialkahlschlag der Landesregierung wendet als verfassungsfeindlich zu diffamieren und auf eine Stufe mit Neofaschismus zu stellen, ist ein Skandal.

Neben aller Kritik lässt sich doch auch einiges Interessantes aus der Antwort herauslesen:

Die faschistische Szene in Schleswig-Holstein lässt sich grob in zwei Strömungen einteilen. Neben den Parteien der extremen Rechten (NPD und DVU) gewinnen lose Zusammenschlüsse von Neonazis, sogenannte Aktionsgruppen, seit Jahren an Bedeutung. 

Die Mitglieder

Der schleswig-holsteinische Verfassungsschutzbericht gibt für das Jahr 2010 1340 sogenannte Rechtsextremist_innen an, davon sind nur sehr wenige parteipolitisch organisiert. Der weitaus größere Teil ist aktionistisch geprägt. Interessant ist, dass der Verfassungsschutz sich in Bezug auf die Aktionsgruppen offensichtlich auf „Schätzungen beschränken“ muss. Das ist bizarr, denn besonders in dem Milieu, das nicht so einfach zu überwachen ist, sollte der Verfassungsschutz doch Bescheid wissen. Das ist alarmierend, denn die große Anfrage zeigt, dass die meisten faschistischen Propaganda-Veranstaltungen, seien es Konzerte, Liederabende oder Aufmärsche von den Aktionsgruppen organisiert werden. 640 der 1340 Nazis, die im Verfassungsschutzbericht geführt werden, werden als gewaltbereit eingestuft, darunter 10% Frauen.  

Veranstaltungen

Neue Informationen haben wir durch die Große Anfrage besonders im Bereich der Veranstaltungen, die von Nazis organisiert werden. Insgesamt wurden seit 2005 60 angemeldete Demonstrationen oder Kundgebungen aufgeführt, wobei die Aufzählung offensichtlich nicht vollständig ist. Mindestens eine Versammlung unter freien Himmel der DVU im Jahr 2010 fiel durch die Statistik.

15 der aufgeführten Versammlungen wurden durch die NPD, eine durch die DVU, 40 durch die Freien Nationalisten und zwei durch die AG Kiel angemeldet. Das Themenspektrum, das Nazis zur Mobilisierung heranziehen, ist sehr breit gefächert; die Titel der Veranstaltungen verschleiern in der Regel die menschenverachtende Ideologie, die dahinter steht. Auch in Schleswig-Holstein werden verstärkt soziale Themen (7 Veranstaltungen) oder Globalisierungskritik (2) zur Mobilisierung herangezogen. Die meisten Anlässe zu Aufmärschen boten aber weiterhin historische Themen (19), wie zum Beispiel der alljährliche Aufmarsch in Lübeck zum „Gedenken an den Bombenterror der Alliierten“. Auch die altbewährte Kinderschänder-Thematik diente insgesamt acht Mal als Überschrift für Veranstaltungen. Die Thematik „Gegen linke Gewalt“ taucht erst in jüngerer Zeit auf, 2010 und 2011 trugen zwei Veranstaltungen diesen Titel. Häufigste Veranstaltungsorte waren Lübeck (13) und Kiel (12), wobei in insgesamt 23 Städten in Schleswig-Holstein mindestens eine Veranstaltung stattgefunden hat.

Straftaten

Bei den Antworten, die die Landesregierung zu den Straftaten und Gewaltstraftaten gibt, muss man Vorsicht walten lassen. Zum Beispiel gibt die Landesregierung an, dass von 345 Straftaten durch Nazis seit 2005 lediglich „2 gegen Einrichtungen der (vermeintlich) linken Szene“ verübt wurden. Das ist wenig glaubhaft angesichts mehrerer Anschläge auf den Buchladen „Zapata“ in Kiel und mehreren Anschlägen auf alternative Wohnprojekte, um nur einige Beispiele zu nennen. Merkwürdig ist auch, dass die Landesregierung versichert, dass mindestens sechs der Anschläge auf Büros der LINKEN in den Jahren 2008-2010 in den Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) aufgenommen wurden. Da fragt man sich doch, warum die Hakenkreuzschmierereien an Büros der LINKEN nicht in der Statistik auftauchen. Wurden sie etwa als PMK- links verzeichnet? Interessant ist auch, dass die Zahl der Straftaten in diesem Deliktbereich seit dem Jahr 2010 enorm zurückgegangen ist (von 60 auf 37 Gewaltstraftaten). Es ist nur Spekulation, dass diese eigentlich erfreuliche Nachricht auch mit verändertem Erfassungsverhalten seit dem Regierungswechsel 2009 zu tun hat. Bei diesen und anderen ungeklärten Fragen, werden wir aber weiter am Thema bleiben.

Gewaltstraftaten

Auch die genaue Darstellung von Gewaltstraftaten seit 2001, aufgeschlüsselt auf die einzelnen Städte und Gemeinden bringt einige Erkenntnisse. Laut Landesregierung wurden in Schleswig-Holstein in den letzten 10 Jahren 568 Gewaltstraftaten durch Nazis verübt. Wir müssen hier berücksichtigen, dass es sich dabei nur um jene handelt, bei denen die Täter tatsächlich gefasst und auch verurteilt wurden. Verfahrenseinstellungen, nicht angezeigte Straftaten werden also nicht berücksichtigt. Trotzdem haben wir noch fast 60 Gewalttaten im Jahr und weil durch eine gezählte Tat meistens mehrere Opfer geschädigt werden, müssen wir von weitaus mehr als 600 Opfern ausgehen. Häufige Tatorte waren Kiel (73), Lübeck (69), Neumünster (42), Rendsburg (29), Husum (25), Elmshorn (17), Flensburg (17), Ratzeburg (16), Eckernförde (15), Pinneberg (15), Heide (14), Uetersen (12). Steinburg (11). Insgesamt wurden in 123 Gemeinden und Städten Schleswig-Holsteins Gewaltstraftaten durch Nazis verübt. Für eine Stadt wie Neumünster, mit 79 000 Einwohner_innen kommt eine Tat auf 500 Einwohner_innen, wiederum müssen wir aber von mehreren Opfern einer Tat ausgehen. Das die Landesregierung nicht die geringste Ahnung hat wie viele Opfer überhaupt durch Gewalt der Faschisten geschädigt wurden ist eine Bankrotterklärung. Diese Zahl gehört mindestens in jede sinnvolle Statistik zu rechtsextremer Gewalt.

Verurteilungen und Verfahrenseinstellungen:

Um die Fragen nach Verurteilungen und Verfahrenseinstellungen zu beantworten, müsste die Landesregierung auf Zahlen des Justizministeriums zurückgreifen. Leider arbeitet dies Ministerium mit einer anderen Statistik, so dass uns die Auswertung erschwert wird. Die Statistik für rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten zeigt, dass seit 2005 in diesem Deliktfeld insgesamt 4460 Verfahren eingestellt wurden. Dagegen wurden nur 317 Angeklagte verurteilt und auch nur 52 davon zu Freiheitsstrafen, die wiederum in 47 Fällen auf Bewährung ausgesetzt wurden. Das ist insbesondere dann nicht nachzuvollziehen, wenn die Polizeistatistik für die Jahre 2006-2010 im Bereich der Politisch Motivierten Kriminalität-rechts insgesamt nur 3134 Straftaten verzeichnet. Auch hier werden wir weiter nachfragen, um die Gründe für die hohe Zahl der Verfahrenseinstellungen offiziell zu klären. 

Der jüngsten Statistik zu rechtsextremen Straftaten des Bundesinnenministeriums zufolge belegt Schleswig-Holstein Platz 6. 2009 und 2010 war Schleswig-Holstein unter den alten Bundesländern dasjenige mit den meisten rechtsextremen Gewalttaten. Das sind alarmierende Zahlen. Die Landesregierung spielt das Problem jedoch herunter. Die Landesregierung weiß von bekennenden Neonazis, die sich ehrenamtlich engagieren. Sie schreibt: „Von einzelnen Angehörigen der rechtsextremen Szene ist bekannt, dass sie ehrenamtlich tätig sind, ohne dass sie ihr Engagement zu rechtsextremistischen Aktivitäten nutzen. Eine planmäßige Erfassung von Rechtsextremisten in Ehrenämtern erfolgt jedoch nicht“ (S. 20). Es ist seit Jahren bekannt, dass Neonazis verstärkt versuchen sich zum Beispiel in Sportvereinen zu etablieren. Zu glauben, dass man die Gesinnung von Nazis von ihrem bürgerschaftlichen Engagement trennen könne ist ein gefährlicher Irrglaube. Im Falle der Landesregierung ist es mindestens mangelndes politisches Bewusstsein. 

Allen Interessierten sei die eigene Lektüre und Bewertung der Anfrage und Antworten empfohlen: https://lissh.lvn.parlanet.de/cgi-bin/starfinder/0

Diesen Artikel haben wir mit freundlicher Genehmigung aus dem Gegenwind (September 2011) übernommen. 

 

 

Veröffentlicht in Faschismus/Antifaschismus mit den Schlagworten DVU, NPD, Schleswig-Holstein