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Montag, 16. Juli 2007, 2:00 Uhr
Nur nicht hier ...
Schulweg: Aufstand der Unanständigen
Von Olaf Harning | In Friedrichsgabe, zwischen Mühlenweg und der Harckesheyde, wurde in den vergangenen Jahren emsig gebaut: Ein paar Geschossbauten, rundherum schmucke Reihenhäuser, viel Grün. Meist junge Familien sind hierher gezogen, nicht selten mit kleinen Kindern, meist Leute mit zwei Mittelklasse-Fahrzeugen vor dem Haus. Und mittendrin: Soziale Infrastruktur! Zwei Kindergärten, Spiel- und Bolzplätze sowie Beratungsstellen und Sozialräume auf dem Gelände der Albert-Schweitzer-Kirchengemeinde. Nebenan die Einrichtung der Rosa-Settemeyer-Stiftung, ein Haus für jüngere, geistig Behinderte. Die reinste Idylle, möchte man meinen.
Doch mit den Neu- und AltnorderstedterInnen rund um die Albert-Schweitzer-Kirche kamen auch Probleme dahin, wo zuvor nur Felder bestellt- und Ernten eingeholt wurden - soziale Probleme. So kam es laut Polizeioberkommissar Wolfgang Banse, zuständig für Jugendkriminalität und aktiv im Kriminalpräventiven Rat der Stadt, zwischen April, Mai und Juni diesen Jahres zu Problemen mit einer Gruppe von rund einem Dutzend Jugendlichen, konkret zu Diebstählen und Vandalismus im niedrigschwelligen Bereich. Eine der Ursachen: Jugendliche haben hier nichts zu bestellen. Sicher, der ein- oder andere Bolzplatz lädt ein, aber selbst in dieser Hinsicht - die GALiN bemängelte das jüngst - hat Norderstedt zuletzt eher Wenig investiert.
Neben Kriminalprävention und Repressalien, so dachten sich nun KommunalpolitikerInnen, Stadtverwaltung, Polizei und Kirche, soll es künftig auch ein Betreuungsangebot geben, das auf die Jugendlichen zugeschnitten ist, das sie abholt, wo sie gerade stehen. Und zu dieser Vorgabe macht die durch Fusion neuformierte Kirchengemeinde Harksheide bereits seit September letzten Jahres einen Vorschlag: Der Neubau eines Jugendzentrums schwebt den Pastoren Gunnar Urbach (Pastor Falkenbergkirche) und Christopher Fock (Pastor Albert-Schweitzer-Kirche) vor. Ein Jugendzentrum, das die akut problematischen Jugendlichen ebenso aufnimmt, wie die künftigen Generationen - wir erinnern uns - der zugezogenen Jungfamilien.
Protestierende AnwohnerInnen
Während man derartige Geschenke andernorts dankend annimmt, wehren sich Teile der Anwohnerschaft hier gegen soziale Segnungen. So musste das mobile Spielmobil "Fidibus" der kirchlichen Jugendarbeit schon vor Monaten sein Erscheinen im Viertel auf einmal pro Woche beschränken, nachdem sich Anwohner massiv über den Spiellärm beschwert hatten. Ähnlich wurde mit den "Maulwurfshügeln" verfahren: Einige künstlich angelegte Erhebungen, auf denen Kinder offenbar "zu laut" gespielt hatten, mussten dem Erdboden gleichgemacht werden. Jetzt der Streit um das angedachte Jugendzentrum, der Mitte Juni sogar in einer Demonstration gipfelte: Anlässlich eines Ortstermins des Norderstedter Jugendhilfeausschusses versammelten sich knapp 150 AnwohnerInnen und Schaulustige, protestierten mit dem Tenor: Ein Jugendzentrum ist super, aber nicht vor unserer Haustür. "Lärm" befürchten auch hier die Aufständischen, schickten sogar ihre Jüngsten mit Schildern um den Hals vor: "Ich brauche meinen Schlaf." Als ob ein Jugendzentrum automatisch Schlaflosigkeit zur Folge hat, als ob dort Abend für Abend die Post abginge, um die jüngsten Nachbarn wachzuhalten. Spießbürger in Aufruhr.
Im Juni 2006, während der Fußball-WM, stiegen im Viertel jeden Abend die Rauchsäulen kollektiven Grillens in den Nachthimmel, Fußballfans grölten bis spät in die Nacht, brannten Feuerwerke ab. An Wochenenden im Frühjahr, Sommer und Herbst könnten die laufenden Rasenmäher zu einem einzigen tosenden Orchester zusammengeschlossen werden, während wochentags morgens und abends zur Rush-Hour die Fahrzeuge der Anwohner durch Norderstedt flitzen, um ihre Besitzer zur Hamburger Arbeitsstelle zu bringen. Kurz später werden dann - mit dem zweiten Auto - die Kinder zur Schule gefahren. Lärm? Der geht bislang von allen BewohnerInnen des Viertels gleichsam aus, seltsam nur: Am wenigsten von den Jugendlichen.
Die konkreten Sorgen - eine bunte Mischung von Vorurteilen
Lärm, Kriminalität und Übergriffe auf ihre "normalen" Kinder befürchten die protestierenden Anwohner. Dabei verlieren einige jedes Maß. Etwa H.-Jürgen Reichel oder Ina Scholz, die in Leserbriefen an die Norderstedter Zeitung mitteilten, schon die bestehenden Einrichtungen der Kirchengemeinde seien - etwa durch Glockenlärm oder Feste - kaum erträglich. "Wie kann man auch nur in Erwägung ziehen," fragt Reichel, "ein Jugendhaus inmitten eines eng bebauten Wohngebietes zu setzen". Wie man das um alles in der Welt nicht tun kann, wäre wohl die passende Antwort. Während Jens Petersen den Bau eines Jugendzentrums in seinem Viertel als "Provokation" empfindet, macht Elke Meyer - ebenfalls in der Norderstedter Zeitung - deutlich, was sie von Integration und sozialen Unterschieden hält: "Also wird wieder mal nichts für "normale" Jugendliche ohne kriminellen oder sozial-schwachen Hintergrund getan. Aber diese "soziale Hängematte" wird nicht die Probleme lösen (...)". Kein Gedanke daran, dass die Kinder der Protestierenden in einigen Jahren selber in das Alter der heute störenden Jugendlichen kommen, keine Idee davon, dass nicht ausschließlich sozial schwache Jugendliche laut sind und Blödsinn machen, sondern auch gelangweilte Reihenhaus-Kids. Nein: "Unsere" Kinder tun so was nicht.
Diese verengte Sicht kritisiert auch Wolfgang Banse gegenüber dem Info Archiv: "Es gibt diese Tendenz in unserer Gesellschaft. Wir wollen um uns herum, um unser Haus herum, um jeden Preis Ruhe haben. Das ist ein Stück weit kinderfeindlich. Dass die eigenen Kinder auch einmal älter werden und dass wir selber auch Lärm gemacht haben ... das vergessen wir.". Insgesamt, so Banse, würde die "Belastung" durch die Jugendlichen im Stadtteil ohnehin deutlich übertrieben. "Das sind schließlich keine Kriminellen. Einen sozialen Brennpunkt haben wir hier schlicht nicht." Auch Gunnar Urbach, Hauptpastor der zusammengeschlossenen Kirchengemeinde Harksheide widerspricht den Befürchtungen der Anwohner vehement: "Ein Jugendhaus schafft keine Probleme, es löst sie!" Bislang habe sich - wenn überhaupt - nur die Polizei der Jugendlichen angenommen - immer dann, wenn schon etwas passiert ist. Genau das, so Kirchenmann Urbach, sollte sich mit dem Jugendzentrum im Schulweg ändern. Und zu dem Vorwurf, die Kirche und vor allem er selbst hätten an den Anwohnern vorbei geplant: "Wir schlagen das Jugendzentrum letztlich seit den Beschlüssen im September 2006 vor, nach denen die Jugendarbeit im Quartier ausgebaut werden soll. Im Frühjahr 2007 haben wir die Pläne im Gemeindebrief abgedruckt, den jeder Anwohner frei Haus erhält." Proteste habe es ihm gegenüber bislang nicht gegeben und leider "hat sich die Norderstedter Verwaltung in all den Monaten kaum bewegt."
Seltsam in diesem Zusammenhang, dass sich ausgerechnet die Norderstedter SPD ? derzeit u.a. mit ihrer Kampagne "Kinderstadt Norderstedt" beschäftigt, deutlich mit den Protestierenden solidarisiert. Während Pressesprecher Thomas Jäger erklärt, keiner der AnwohnerInnen habe etwas gegen Jugendliche und noch am 27. Juni schwere Vorwürfe gegen Urbach erhebt, der würde das Viertel "zu einem sozialen Brennpunkt hochstilisieren", ist es wiederum Jäger, der am 7. Juli in einem anbiedernden Brief an die Anwohner schreibt: "Die Ausgangslage in Ihrem Wohngebiet ist, auch nach Aussage der Norderstedter Polizei, eine durchaus schwierige. Fortwährende Ruhestörungen, Vandalismus und Sachbeschädigungen zwingen (...) bereits seit längerer Zeit zum Handeln." Welches Spiel treibt die SPD hier? Anscheinend hat der Kommunalwahlkampf begonnen.
Egoismus erfolgreich?
Die neue Form des Egoismus mag erschrecken, scheint jedoch zunächst erfolgreich: "(...) nach dem vehementen Aufbegehren der Anwohner scheint der Bau eines Jugendhauses an der Albert-Schweitzer-Gemeinde die unwahrscheinlichste aller Varianten zu sein", beendet die Norderstedter Zeitung ihren Artikel vom 23. Juni. Und in der Sitzung des vorentscheidenden Jugendhilfeausschusses am 5. Juli spielte das Jugendzentrum keine Rolle mehr - die Schulsozialarbeit soll jetzt gestärkt werden. Für die "Nicht bei mir"-Protestierer im Schulweg wäre das möglicherweise ein Phyrrussieg: Denn alternative Antworten auf das Jugendproblem im Stadtteil haben sie nicht, die so sehr beklagte Lärmentwicklung wird wahrscheinlich eher zu- als abnehmen.
So viel Ignoranz können auch andere NachbarInnen der Gemeinde nicht nachvollziehen. Julia und Sven Freese etwa, Eltern zweier Kleinkinder, sind von den Protesten überrascht. Probleme mit den bereits bestehenden Einrichtungen der Gemeinde haben sie nicht: "Zu den Festen gehen doch selbst die, die jetzt protestieren", sagt Freese. Sie habe die schriftliche Protest-Ankündigung von 14 Familien zunächst nicht ernst genommen. Das Thema wird ihr insgesamt zu hoch gekocht, beispielsweise seien auch die im Mittelpunkt stehenden "Problem-Jugendlichen" zu ihr immer sehr höflich, wirken keinesfalls bandenhaft organisiert: "Die sind doch niedlich. Die grüßen wenigstens immer - mich und meine kleine Tochter." Und das könne man - und da grinst die junge Mutter - von einigen jetzt protestierenden Nachbarn nicht unbedingt sagen. Ähnlich verständnislos auch Sabine Callsen, die mit ihren 4, 7 und 11jährigen Kindern im Viertel zu Hause ist: "Die meisten Eltern im Kindergarten sehen, dass es hier Probleme gibt, die durch ein Jugendzentrum zu lösen sind. Sie befürworten den Bau." Christiane Adria sieht bei den Protestierenden Angst als Ursache: "Auch ich wohne in besagtem Wohngebiet und führe mit meiner Familie ein idyllisches Leben - ohne Angst vor Jugendlichen oder behinderten". Adria rät zu mehr Gelassenheit, oder einem anderen Wohnort: "Wäre da nicht ein weniger besiedelter Fleck die bessere Wahl gewesen - beispielsweise der Mond?" Noch einen Schritt weiter geht Stefanie Neruda in ihrem Leserbrief an die Norderstedter Zeitung: "Die Haltung, andere Menschen, die anders leben als man selbst (Behinderte, Kinder in Kindergärten, mofafahrende Jugendliche), von der Wohninsel der Glückseligkeit vor der Haustür verbannen zu wollen, empfinde ich als intolerant bis verbal rechtsradikal."
"Die Erwachsenen sind falsch"
Die Betroffenen selbst, die Jugendlichen, die für öffentliche Ärgernis sorgen, sehen die Debatte übrigens mehr als entpannt. Peter etwa (der seinen Nachnamen nicht nennen will) hat bislang kaum Kontakt mit den Protestierenden gehabt. "Einmal war jemand hier, der sagte, wir sollen sofort verschwinden. Als wir ihm geantwortet haben, dass wir bleiben, rief er sofort die Polizei. Die hat dann aber nur gesagt, wir sollen uns etwas ruhiger unterhalten und ist wieder gefahren." Für die Auseinandersetzungen im Viertel hat Peter wenig Verständnis: "Die Erwachsenen sind oft falsch", sagt er, "mit uns spricht niemand, aber hinter unserem Rücken tuscheln sie über uns." Man würde, so Peter weiter, genau merken, dass ein Teil der Erwachsenen in seinem Alter auch "Quatsch gemacht hat und laut war". Die anderen hätten eben in ihrem Häuschen gehockt und gar nichts gemacht. Ein Jugendzentrum im Viertel würde er sehr begrüßen, auch viele seiner Freunde würden sich darüber freuen: "dann müsste man nicht immer durch halb Norderstedt fahren, zum Bunker oder in die Teestube, um etwas zu unternehmen." Mehr als zwanzig Freunde und Bekannte kennt er, die wohl ein Jugendzentrum besuchen würden, wenn das Angebot O.K. ist. Aber mal ehrlich: Wen interessiert am Ende schon, was die einzig wirklich Betroffenen dazu sagen.
Einige weitere Reaktionen:
Mario Kröska aus Lentföhrden (Norderstedter Zeitung) meint: "Bei diesem Auftritt der Anlieger ist kein Klischee ausgespart worden. Neben dem "St.Florians-Prinzip" (...) bleibt festzustellen, dass unsere zukünftigen Sozialversicherungsträger zunächst in Banden organisiert sind, grundsätzlich Ärger verbreiten, sich auffällig aggressiv verhalten und darum (...) aus Wohngebieten zum Schutz der Wohnqualität vollständig zu verbannen sind. (...) "Wir" sind einfach gegen alles und jedes. Die Disco im Herold-Center, eine geplante Wasserskianlage am Ende der Welt, eine Freilichtbühne, ein betreutes Jugendhaus, Fluglärm, Mobilfunkmasten und Straßenverkehrslärm. Selbstverständlich wünschen wir ein erstklassiges Infrastruktur-, Schul-, Wohn-, Erholungs-, Arbeitsmarkt- und Freizeitangebot für uns und unsere Kinder. (...)"
Jörg Adler Anwohner (im Heimatspiegel): "Ich möchte dem entstandenen Eindruck, dass die Anwohner des Schulwegs mehrheitlich gegen den Bau des Hauses sind, (...) widersprechen. Die Mehrzahl der Anwohner der Straße hat nichts gegen den Bau des Jugendhauses einzuwenden (...). In der Diskussion mit den Gegnern des Hauses wurde mir deutlich, dass sie keine stichhaltigen Argumente vorbringen können, außer der Tatsache einer im Voraus attastierten privaten Belästigung, befürchteter Wertminderung von Grundstücken und dem Gedanken, dass Jugendhäuser nichts in Wohngebieten zu suchen haben. (...) Viele beschweren sich über den Alkohol- und Drogenkonsum von Kindern und Jugendlichen - wird Hilfe angeboten, ist es auch wieder falsch - "Wir sind ja für ein Haus, aber nicht hier!" Wohin läuft dieses System, wenn behinderte Menschen im Urlaub als gerichtlich attestierte Wertminderung des Pauschalurlaubs angesehen werden, wenn Bettler aus Einkaufsstraßen vertrieben werden und Hartz-IV-Empfänger von Ministern als Schmarotzer dargestellt werden und das Gemeinweisen seine Kinder und Jugendlichen an den Rand drängt? (...)"