+ + + ARCHIVIERTER INHALT + + +

Diese Seite kommt aus unserem Archiv und enthält möglicherweise Informationen, die nicht mehr aktuell sind. Bitte beachten Sie das Veröffentlichungsdatum dieser Seite.

Dienstag, 15. März 2005, 1:00 Uhr

Obdachloser fast erfroren

Wenn verweigerte Hilfe "Früchte trägt"

Von Olaf Harning | Es war der frühe Morgen des 24. Februar, als Polizeibeamte den 43jährigen vor dem Haupteingang des OBI/Plambeck-Baumarktes an der Niendorfer Straße fanden. Der Mann war offenbar alkoholisiert und hatte sich bereits Erfrierungen zugezogen. Er wurde sofort ins Klinikum Nord eingeliefert. War es alleine der Alkohol, der den 43jährigen das Risiko des Erfrierens eingehen ließ, oder hielten ihn vielleicht doch die unannehmbaren Umstände in der vorhandenen Hilfseinrichtung davon ab, dort Schutz zu suchen?
Schon seit Jahren ist die fehlende Betreuung in der Unterkunft am Langenharmer Weg in der Kritik. Nach einem Totschlag und mindestens einer Selbstverstümmelung ebendort kam es Mitte letzten Jahres zu einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Notwendigkeit bezahlter Stellen, der eigentlich zuständige Landrat Georg Gorrissen wurde vor den Norderstedter Sozialausschuss zitiert. Dort allerdings zog er sich perfide aus der Affaire: Sehr wohl sei der Kreis Segeberg zuständig und sicher habe man herausgefunden, dass 1,5 Stellen notwendig seien, um eine hinnehmbare Betreuung auf die Beine zu stellen. Da aber das nötige Kleingeld im Kreishaushalt fehle, könne der Kreis seine Pflichtaufgabe - kurz und bündig - "leider" nicht erfüllen. Gorrissen vermied es in dieser Situation freilich, über die millionenschweren Sicherheiten des Kreises für die angeschlagene Kreissparkasse Segeberg/Stormarn zu sprechen. Lieber solidarisierte er sich mit seinem Pinneberger Amtskollegen Wolfgang Grimme (CDU), der im Angesicht klammer Kassen kurzerhand die Auszahlung der Sozialhilfe in in Frage stellte.
Bislang ist in der Unterkunft für Wohnungslose im Langenharmer Weg der Hausmeister oft einziger Ansprechpartner für die Betroffenen. Schon im Januar 2004 richtete sich deshalb der ehrenamtliche Arbeitskreis Obdachlosigkeit (AOK) an die Öffentlichkeit und forderte einen ständigen sozialpädagogischen Ansprechpartner vor Ort. Außerdem kritisierte die Gruppe, dass die wohnungslosen Menschen ausnahmslos in Mehrbettzimmern untergebracht werden. Eine solche Unterbringung sei für wenige Tage sicherlich hinnehmbar, die Mehrheit der NutzerInnen würden jedoch Monate, teils Jahre in der Wohnstätte verbringen, weil sie auf dem offenen Wohn- und Arbeitsmarkt überhaupt keine Chancen mehr haben. Ähnlich äußerte sich wenig später auch Klaus Rädiker von der Grün Alternativen Liste in Norderstedt (GALiN). In einer Presseerklärung vom April fordert die GALiN die Betreuung der Menschen mit mindestens 1,5 Stellen. "Selbst diese Betreuung", so Rädiker heute, "würde aber nur die schlimmsten Missstände lindern". Wenn man es genau nehme, müsse eine umfassende Betreuung der Betroffenen konzipiert werden, die weit mehr Mittel erfordere. Auch die Norderstedter SPD schloss sich im Sommer der Forderung nach dauerhafter Betreuung an und sah "die Grenze des Erträglichen überschritten".
Vor allem die CDU war es dann, die Veränderungen blockierte. Während sie selber Anfang 2004 die Mittel für die Tagesaufenthaltsstätte (TAS) für Obdachlose auf nahe Null zusammenkürzte und die Vertreibung von Obdachlosen aus der Glitzerwelt des Herold-Centers vorantrieb, weigerten sich die christdemokratischen KommunalpolitikerInnen nachhaltig, den Kreis ob der offensichtlichen Mängel unter Druck zu setzen – obwohl auch sie den Betreuungsbedarf grundsätzlich bejahten. Ein Vorschlag, beispielsweise die Kreisumlage der Stadt Norderstedt an den Kreis zu senken und daraus die von Gorrissen und den KreispolitikerInnen verweigerte Hilfe zu finanzieren, wurde abgelehnt. Seit der Sozialausschussitzung vom 26. August wird die Pein der Betroffenen nunmehr gründlich ausgesessen, übrigens in teils interessanter Besetzung der verantwortlichen Posten: Während etwa Norderstedts Bürgermeister Hans-Joachim Grote (CDU) für Kürzungen in der Stadt und Passivität gegenüber dem Kreis verantwortlich zeichnet, ist seine Frau Doris Grote als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Kreis-CDU in Bad Segeberg mitverantwortlich für die verweigerte Hilfe ebendort. Die Beiden wohnen übrigens nur wenige hundert Meter vom Elend der Wohnungslosen entfernt.
Eine mögliche Ursache für diese außerordentliche wie lebensgefährdende Ignoranz könnte Norderstedts fragwürdiger Aufstieg zur großen, kreisangehörigen Stadt sein, dem die Übertragung zahlreicher Rechte und Pflichten des Kreises nachfolgen soll. Schon bald könnte auch die Versorgung der Obdachlosen unter die Fittiche der Stadt fallen, der Kreis dürfte sich alleine deshalb nicht allzusehr dafür interessieren, schnelle Entscheidungen zu fällen. Und auch Bürgermeister Grote - nunmehr von seinen Getreuen zum "Oberbürgermeister" ernannt - wird vor der Neudefinition städtischer Aufgaben tunlichst vermeiden, nötige Mittel anzubieten.
Bereits im Juni 2004 kartete GALiN-Politiker Rädiker ob der verweigerten Hilfe zynisch nach und fragte: "Was ist uns denn wichtiger, als Menschen in Not? Und was kosten eigentlich Polizeieinsätze?". Im August dann der ebenfalls ergebnislose Auftritt Gorrissens im Sozialausschuss, seitdem ruht still der See. So still, dass selbst ein fast erfrorener Obdachloser die KommunalpolitikerInnen von CDU und FDP nicht aus ihrer gefälligen Ruhe bringt und der Lokalpresse nur einen Achtzeiler wert ist.

Alcide De Gasperi (1881-1954) neben Konrad Adenauer: Namensgeber der Passage im Herold-Center, die nach ihrer Privatisierung frei von Obdachlosen sein soll ...

Veröffentlicht in Soziales mit den Schlagworten CDU, FDP, GALiN, Hans-Joachim Grote, Infoarchiv, Norderstedt, Plambeck, Polizei, SPD