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Freitag, 2. Juli 2004, 2:00 Uhr

Protest bei Bundespräsident und Bundeskanzler

Der Kampf um Merdiye und ihre Familie geht weiter

Von Astrid Jodeit | Aber auch für die restliche Familie ist die Lage ernst: das Asylverfahren, welches über das Bleiberecht ihrer Eltern und sechs Geschwister entscheiden soll, ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber nach geltender Rechtslage ist auch für sie der Aufenthalt in Deutschland nur noch eine Frage der Zeit. Dabei spielt es keine Rolle, dass die kurdische Familie, die vor acht Jahren in die BRD flüchtete, in der Türkei Opfer von Verfolgung, Kriegshandlungen, Inhaftierungen und Folter wurde. Und es spielt keine Rolle, dass der Vater sich noch immer auf Grund der erlebten Traumata in therapeutischer Behandlung befindet, es spielt auch keine Rolle, dass drei der sieben Kinder der Familie Erman in Deutschland zur Welt kamen und die Türkei nie kennen gelernt haben.
Merdiyes LehrerInnen wollen die Abschiebung der Familie nicht einfach hinnehmen. Nachdem ihre MitschülerInnen bereits mit einem Protestbrief und 600 Unterschriften beim schleswig-holsteinischen Innenminister Buß demonstrierten, tragen nun die LeherInnen der jungen Frau ihre Empörung nach Berlin und erklären in einem Schreiben an den Bundespräsidenten: "Wir wenden uns an sie in der Hoffnung, dass sie helfen können, im Namen der Menschlichkeit ein Unrecht zu verhindern."
Das Unrecht, das Merdiye und ihrer Familie wiederfährt ist in der BRD allerdings der Regelfall im Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen. Und diejenigen, die im Namen der Menschlichkeit gebeten werden, Gnade walten zu lassen, sind gleichzeitig die Vollstrecker und Verantwortlichen für eine Migrationspolitik, die rein nach Verwertungslogik Gesetze schreibt, und humanitäre Verantwortlichkeiten
ausschließlich ordnungspolitisch beantwortet. Das neue Zuwanderungsgesetz ist dafür Indiz genug. Seit das Recht auf Asyl in Deutschland 1993 faktisch abgeschafft wurde, haben sich die jährlichen Abschiebungen zu 300% erhöht, mit immer noch steigender Tendenz. Und nach hiesiger Gesetzgebung darf sich Merdiye noch "glücklich" schätzen, dass die Behörden so "gnädig" sind, ihren 18 Geburtstag abzuwarten. In der BRD ist es nämlich durchaus üblich auch Kinder in Abschiebehaft zu nehmen, bzw. unbegleitet abzuschieben.
Überforderung, Angst und Perspektivlosigkeit sind kein Grund für Gnade. Nach § 68 (2) Ausländergesetz heißt es: "...die mangelnde Handlungsfähigkeit eines Minderjährigen steht seiner Zurüchweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nicht entgegen." In den letzten Jahren wurde von Seiten der Gesetzgeber alles getan, mögliche "Vollstreckungshindernisse", wie es in der Amtssprache heißt, zu eliminieren. So gelten inzwischen auch schwere körperliche Erkrankungen, Schwangerschaften oder Traumatisierungen, die nach § 53 Flüchtlinge vor ihrer Abschiebungen schützen konnten, nicht mehr. Inzwischen werden auch in Schleswig-Holstein Todgeweihte in den Flieger gesetzt. ÄrztInnen und TherapeutInnen, heißt es lapidar, gibt es schließlich auch in den Herkunftsländern. Ob eine adäquate medizinische oder psychologische Versorgung im Herkunftsland tatsächlich gewährleistet ist, wird nicht geprüft und interessiert auch niemanden. Welche möglichen Re-traumatisierungen gewaltsame Abschiebung in Kriegs- und Folterstaaten auslösen, wird zwar von PsychiatierInnen immer wieder angemerkt, aber willentlich überhört.
Trotzdem hoffen LehrerInnen und SchülerInnen des Schulzenrum-Süd, sowie UnterstützerInnen und Freunde der Familie Erman auf eine positive Entscheidung. Tatsächlich gibt es seit der Proteste bei Innenminister Buß Gespräche zwischen Ministerium und dem Anwalt der Familie. Und der Landrat des Kreis Segeberg, Gorissen (parteilos), ließ auf Anfrage verlauten, dass er sehr viel Sympathie für den Einsatz der Schule für Merdiye hege und alles tun werde, was möglich ist, um "diesen Wunsch auch Realität werden zu lassen". Wir werden sehen. Zwei Dinge stehen aber jetzt schon fest: Erstens werden die Proteste und Aktionen auf jeden Fall weitergehen, bis eine zufriedenstellende Bleiberechtsregelung für Merdiye und ihre Familie erzielt ist. Und zweitens darf das Bleiberecht für Menschen ohne deutschen Paß nicht der Glücksfall willkürlicher Gnadehandlungen und Einzelfallentscheidungen bleiben. Ein menschenwürdiger Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen ist nicht die Aufgabe von Härtefallkomissionen, sondern muss das Ergebnis einer Migrationspolitik sein, die jenseits von Rassismen, Verwertungslogik und Abschottungspolitik agiert. In wenigen Tagen, am 7. und 8.Juli findet in Kiel die sogenannte "Frühjahrskonferenz" der Innenminister aus Bund und Ländern zu Flüchtlingsfragen statt.
Das "Bündnis Bleiberecht" fordert zu diesem Anlass eine vollständige Bleiberechtsregelung, die allen potentiell betroffenen Menschen mit ungesichertem Aufenthalt zugute kommt. Unter dem Motto: "Krachschlagen für Bleiberecht und gegen Abschottungspolitik!" wird der Konferenz am ersten Tag durch eine mit Trompeten, Pfeifen und weiteren Instrumenten ausgestatteten Demonstration der "Marsch geblasen" werden.

Veröffentlicht in Flucht und Migration mit den Schlagworten Schleswig-Holstein, Schule