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Donnerstag, 4. November 2004, 1:00 Uhr

SGB XII- Mit Sieben-Meilen-Stiefeln im Rückwärtsgang

Informationsveranstaltung im Norderstedter Rathaus zu den Tücken der neuen Gesetzgebung

Infoarchiv | An Hiobsbotschaften hat es in der Behindertenpolitik in der letzten Zeit nicht gemangelt : Niedersachsen -und auch andere Bundesländer -tasten das Blindengeld an, die weitgehende Streichung der kostenlosen Teilnahme am öffentlichen Personennahverkehr für schwerbehinderte Menschen wurde unlängst angekündigt, und die Abschaffung der Rundfunkgebührenbefreiung für Schwerbehinderte ins Gespräch gebracht. Eine unvollständige Auswahl anstehender Kürzungen.
"Das Leben ist eine Baustelle", weiß der Referent Martin Eckert zu berichten. Im Hinblick auf die sich stetig wandelnden Gesetzgebungen bezüglich der Belange behinderter Menschen darf ohne Übertreibung von einer Großbaustelle die Rede sein.
"Nichts über uns ohne uns", hieß 2003 der kämpferische Slogan des europäischen Jahrs der Menschen mit Behinderung. Hoffnungsvolle Schritte sollten getan werden, und es war selbstbewusst von einem Paradigmenwechsel die Rede. "Wir haben das Prinzip des Fürsorgestatus zugunsten von Teilhabe abgelöst", ließ sich Karl Hermann Haack , Bundesbehindertenbeauftragter, zufrieden zitieren, "der Behinderte kann seine Kompetenzen besser ausspielen und sich damit in die Gesellschaft einbringen."
Nichts über uns ohne uns ? - Auf die neue Gesetzgebung trifft das nicht zu. Schon im Vorwege, als das SGB XII konzipiert wurde, bemühten sich Behindertenverbände und -Vereine um Mitgestaltung. Aber Martin Eckert weiß auf der von der Behindertenbeauftragten Frau Gravenkamp und vom Norderstedter Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte initiierten Veranstaltung zu berichten, dass die neue Gesetzgebung, "...ohne Dialog?", entstand, "Stellungnahmen wurden nicht berücksichtigt."
Das ist nur logisch, denn Martin Eckert schlussfolgert: "die gesamte Fortentwicklung passiert nicht hinsichtlich dem Aspekt neuer Inhalte und Fortschritte, sondern der Gesetzgeber guckt, ist da noch zusätzlich was einzusparen."
Eine bittere Erkenntnis, die sich an folgenden konkreten Beispielen aus dem neuen SGB XII nachzeichnen lässt :
>Das neue Betreuungsrechteänderungsgesetz sieht erhebliche Kosteneinsparungen vor. Die Zeit für den Einzelnen in der Betreuung wird eingeschränkt. Die Standards in der gesetzlichen Betreuung werden unweigerlich den Bach runter gehen.
> Menschen, die in Heimen und Wohngruppen untergebracht sind, und die in der Werkstatt für behinderte Menschen tätig sind, wird 20 % ihres Einkommens genommen ! "Wir haben versucht", erzählt Martin Eckert, "den Gesetzgeber davon abzubringen." Bisher blieb der Widerstand ohne Erfolg. Die Einsparung hat drastische Folgen auf die Lebensqualität der betroffenen Menschen. Von dem ohnehin mageren monatlich zur Verfügung stehenden Geld werden ganz einfach 20 % gekürzt .
> Vor Jahren wurde die Grundsicherung im Alter eingeführt um der oft verborgen gehaltenen Altersarmut entgegenzuwirken. Aus Scham vor dem Gang zum Sozialamt, und aus Furcht, die Verwandtschaft, die eigenen Kinder könnten zu Zahlungen herangezogen werden, verschwiegen viele alte Menschen ihre prekäre wirtschaftliche Situation und lebten, obwohl ihr Einkommen nicht ausreichte, oft weit unter der Armutsgrenze. Die Einführung der Grundsicherung sollte diesem Missstand ein Ende bereiten. Inzwischen verabschiedet sich die Rot-Grüne Bundesregierung von diesem Konzept zum Schutz vor Altersarmut: Nach SGB XII wird die Grundsicherung wieder unter Sozialhilfe gefasst. Ein Sieben-Meilen-Schritt rückwärts, der aber ohne Frage zu Einsparungen führen wird.
> Im Zuge des sogenannten Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurden Zuzahlungsregelungen erdacht, die vor allem Menschen in stationärer Unterbringung unzumutbar belasten.
> Damit nicht genug: Schon vor Wochen informierte der Hamburger Verein "Autonom Leben" auf seinen Internetseiten: "... Im Sozialgesetzbuch XII soll der § 9 geändert werden. Zukünftig sollen die Träger der Sozialhilfe in der Regel allen Wünschen der Leistungsberechtigten nicht entsprechen, deren Erfüllung mit Mehrkosten verbunden ist. Bisher schreibt der § 9 vor, das Wünschen nicht entsprochen werden soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Insbesondere für Menschen, die viel Hilfe und Pflege brauchen, bedeutet diese Regelung ein Ende jeglicher Selbstbestimmung. Der Sozialhilfeträger findet immer, insbesondere in den zukünftigen Zeiten zahlreicher 1-Euro-Jobs - einen preiswerteren Anbieter oder eine in jeder Beziehung billigere Hilfe, um die Wünsche der behinderten Menschen abzulehnen."
> Beachtlich ist auch der § 26 im neuen SGB XII. Dieser soll dahingehend verändert werden, dass die Möglichkeiten des Sozialhilfeträgers, die laufende Sozialhilfe mit gegenüber dem Hilfesuchenden bestehenden Rückforderungsansprüchen aufzurechnen, erweitert werden. Das hat zur Folge, dass, ähnlich wie beim Bezug von Arbeitslosengeld II, Menschen mit Hilfen abgespeist werden können, die unterhalb des durch die Regelsätze festgelegten Existenzminimums liegen.
> Es kommt noch dicker:"Die Bemessungskriterien für die Bestimmung der Regelsätze sollen künftig dem Landesrecht vorbehalten bleiben", heißt es in einem aktuellen Artikel von Gerliff Gleiss, nachzulesen unter www.autonom leben.de, "wenn es nach der bayrischen Landesregierung geht, ist künftig die Bestimmung der Regelsätze einschließlich der berücksichtigten Bemessungskriterien allein Ländersache. Die Länder sollen die Träger der Sozialhilfe ermächtigen können, abweichende höhere oder niedrigere regionale Regelsätze zu bestimmen. Das wird ganz schnell zu sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen innerhalb Deutschlands, zu verschiedenen Definitionen, was Armut und würdiges Leben bedeutet, und zu einem schäbigen Wettbewerb unter den Sozialhilfeträgern führen, welcher die niedrigsten Regelsätze festgelegt hat."

Wie sollen Betroffene dieser Flut drastischer Einschränkungen begegnen ? Der Referent Martin Eckert gibt gleich zu Beginn der Informationsveranstaltung im Nordersteder Rathaus die Antwort: "Informiert, selbstbewusst und mit dem notwendigen Nachdruck."
Und er verweißt auf den Wortlaut des § 11 in der Eingangformulierung des neuen Gesetzestextes. Da heißt es nämlich zur Beratungspflicht der Behörden:"Die Beratung betrifft die persönliche Situation, den Bedarf sowie die eigenen Kräfte und Mittel sowie die mögliche Stärkung der Selbsthilfe zur aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und zur Überwindung der Notlage. Die aktive Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft umfasst auch ein gesellschaftliches Engagement. Zur Überwindung der Notlage gehört auch, die Leistungsberechtigten für den Erhalt von Sozialleistungen zu befähigen. Die Beratung umfasst auch eine gebotene Budgetberatung."
"Diesen Beratungsbegriff", rät Martin Eckert,"muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen." Wenn danach gehandelt würde, resümiert der Geschäftsführer von "Leben mit Behinderung e.V.", dann hätten die Selbsthilfeorganisationen nicht soviel zu tun und träfen nicht ständig auf Nachfragen von hilfesuchenden Menschen, "die sich allein fühlen und an ihrer Situation zu knapsen haben."
Aber was hilft auch das gelungenste Beratungssetting, wenn die nötigen Mittel für ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben nicht zur Verfügung gestellt werden ? Oder zunehmend Einsparungen zum Opfer fallen ? Da hilft nur Wiederstand- "Informiert, selbstbewusst, und mit dem nötigen Nachdruck !"

Veröffentlicht in Soziales mit den Schlagworten Norderstedt