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Mittwoch, 2. Juni 2004, 2:00 Uhr

Sperrmüll-Abfuhr in Norderstedt

Meinungsmache gegen Migranten - Verminderter Service - höhere Umweltbelastung

Von B. Nilsson, aus Nadelstiche, Ausgabe 4/5 2004 | Bisher ist die Sperrmüllabholung in Norderstedt so organisiert, dass sie kostenfrei mehrmals im Jahr zu feststehenden Terminen stattfindet. Dieser gute Service wird von den NorderstedterInnen auch rege genutzt. Zusätzlich existiert die Möglichkeit, seinen Sperrmüll auf Wunsch auch zu anderen Terminen auf Anruf individuell abholen zu lassen. Dieser individuelle Service ist jedoch kostenpflichtig.
Die gebietsweise Abholung zu feststehenden Terminen ermöglicht es außerdem, vorher zu wissen, in welchen Gegenden wann Sperrmüll an der Straße steht, so dass noch brauchbare Dinge von Interessierten mitgenommen und weiterverwertet werden können. Auch diese Möglichkeit wird rege genutzt, insbesondere von NorderstedterInnen und HamburgerInnen (dort gibt es keine Sperrmüllabholung nach "Fahrplan") mit geringem Einkommen. Für sie stellt der Zugang zu vielfach noch gut erhaltenen Sperrgütern eine willkommene Unterstützung dar. Jeder, der in Norderstedt schon Sperrmüll an die Straße gestellt hat, wird erlebt haben, dass diese Menschen an oder unter der Armutsgrenze nicht wählerisch sind und nahezu alles noch verwerten, das sich noch irgendwie gebrauchen lässt. Dadurch werden erhebliche Mengen an Sperrgütern recycelt, was der Kommune Müllberge und Kosten erspart.
Des weiteren lässt sich zum Status quo der Sperrmüllabfuhr konstatieren, dass viele NorderstedterInnen die Sperrmüllabfuhr nutzen, um Restmüll, Altkleider, Flaschen, Kartons, Plastikmüll etc. mit auf die Straße zu werfen, die nicht zum Sperrmüll gehören und deswegen vom Sperrmüllauto auch nicht mitgenommen werden. Sie liegen häufig mehrere Tage auf der Straße herum, bis sie - falls die Anwohner ihren Müll nicht wieder ins Haus holen - vom Betriebsamt aus dessen Kosten extra entsorgt werden, da sich insbesondere bei Häusern mit mehreren Wohneinheiten kaum zurückverfolgen lässt, wer dafür zuständig wäre.

Nach Fahrplan oder auf Abruf?

Im März diesen Jahres erhielten die Norderstedter Haushalte nun vom Betriebsamt das mehrseitige Blättchen "Durchblick" als Hauswurfsendung. Darin widmet sich eine Seite dem Thema "Sperrmüll-Abfuhr nach Fahrplan oder auf Abruf?". Der Titel des Artikels suggeriert, dass das Thema im Folgenden kontrovers diskutiert und die Vor- und Nachteile beider Verfahren dargestellt würden. Stattdessen wird in wenigen Sätzen Meinungsmache betrieben:
"Meist klappt die Abfuhr reibungslos. Dennoch ist nicht jede/r in Norderstedt mit der jetzigen Form zufrieden. Einige Anwohner beklagen, der Sperrmüll werde von `Fremden´ durchwühlt und gefleddert. Oder es werde etwas dazugestellt, das nicht dazugehört. (...) Die Müllwerker haben wirklich nur den Sperrmüll mitgenommen, dennoch findet der Kunde, der selbst zwar alles richtig gemacht hat, nach der Abholung noch Müll vor seiner Haustür. (...) Andere Kommunen verzichten bereits auf die Straßenabholung. (...) Sperrmüll auf Abruf bringt viele Vorteile. Und eines ist sicher: Norderstedt wird sauberer aussehen."

Fremde fleddern ...

Der Tenor des knapp gehaltenen Artikels (er umfasst nur wenige belanglose Sätze mehr als die oben genannten) ist klar: "Fremde" mit ihrem Fleddern und Dazustellen sind schuld, dass Norderstedt nicht sauberer, sondern schmutzig aussieht. Der Restmüll auf den Gehwegen komme nicht von den braven Bürgern, den "Kunden", die heimlich noch ein bisschen mehr auf die Straße werfen, o nein, sie haben alles richtig gemacht.
Gleichzeitig wird suggeriert, es gehe um die Entscheidung "nach Fahrplan oder auf Abruf". Stattdessen existieren zur Zeit beide Alternativen zur Auswahl, kostenfrei nach Fahrplan oder kostenpflichtig auf Abruf, und die potentielle Veränderung bestünde nur darin, die kostenfreie Variante abzuschaffen.
Würde das direkt gesagt, riefe es vermutlich Protest hervor. Da ist es doch geschickter, fremdenfeindliche Behauptungen aufzustellen, die den Ärmsten der Gesellschaft, die ihre Inneneinrichtung über den Sperrmüll bestreiten, auch noch die Schuld dafür zuschiebt, dass die ach so korrekten "Kunden" heimlich Restmüll mitentsorgen.

Umrahmt von Zitaten ...

Dieser unsägliche Artikel wird umrahmt von wesentlich umfangreicheren Zitaten von Einzelpersonen und aus der Norderstedter Zeitung. Anders als sonst üblich werden hier aber keine unterschiedlichen Meinungen dargestellt (die Sozialhilfeempfänger, die sich auf dem Sperrmüll ein paar Brosamen vom Tisch der Reichen holen, wurden wohlweislich nicht befragt), sondern die sogenannten "Stimmen zum Thema" haben alle den gleichen unerträglichen Tenor:
"Im letzten Jahr hat sich die Situation derart zugespitzt, dass man sich als Bürger belästigt oder sogar bedroht fühlt. Die sperrmülldurchwühlenden Personen (...) beobachten jeden Schritt der Bewohner"; "die Mülltouristen kurven ununterbrochen um die Ecke"; "die Fledderer sollten sich den Passus der Satzung hinter die Ohren schreiben: Das herausgestellte Abholgut darf weder durchsucht noch unberechtigt mitgenommen werden".
Auf diesen Beitrag in der Wurfsendung des Betriebsamtes habe ich (...) einen Brief an das Betriebsamt geschrieben.

Eine Gebührenerhöhung ist nicht auszuschließen ...

Auf diesen Brief antwortete zu meinem Erstaunen der Leiter des Betriebsamtes, Herr Sandhof, persönlich in einem zweiseitigen Schreiben, das immerhin wesentlich differenzierter und informativer war als der Beitrag in der Hauswurfsendung. (Daraus schließt man messerscharf, dass es in der Hauswurfsendung gar nicht um Information, sondern um vorbereitende Meinungsmache ging.)
In diesem Schreiben geht Herr Sandhof ausschließlich auf den Aspekt der Müllvermeidung und des Recyclings ein, die er selbst als zentrales Ziel des Betriebsamtes bezeichnet. Das Betriebsamt habe bereits Möglichkeiten anvisiert, bei einer Umstellung auf individuelle Sperrmüllabholung trotzdem noch Einzelteile wiederzuverwerten, indem sie vorher besichtigt, gesondert abgeholt, aufgearbeitet und in einem "Sperrmüllkaufhaus" verkauft würden. Dieses Vorgehen würde jedoch die Kosten von derzeit 200 Euro pro Gewichtstonne Sperrmüll auf 1000 Euro ansteigen lassen (bei 2.500 Tonnen Sperrmüll im Jahr also von 500.000 auf 2.500.000 Euro !), so dass es noch fraglich sei, ob ein solches Wiederverwertungssystem bei einer Umstellung auf individuelle Abfuhr ebenfalls eingeführt werde. Außerdem, so wörtlich: "Eine Gebührenerhöhung ist nicht auszuschließen."
Auf den sozialen Aspekt, dass viele Menschen darauf angewiesen sind, sich auf dem Sperrmüll mit Einrichtungsgegenständen zu versorgen und sich vermutlich auch die Preise in einem "Sperrmüllkaufhaus" nicht leisten können, geht Herr Sandhof nicht ein. Immerhin räumt er zu der Verschmutzung der Straßen mit Restmüll ein:
"Diese wilden Müllkippen entstehen nicht dadurch, dass Bürger, gleich welcher sozialen Schicht sie angehören, den Sperrmüll nach Verwertbarem durchsuchen, sondern vor allem dadurch, dass die Anwohner (...) die Gelegenheit nutzen, um alle möglichen Abfälle außer Sperrmüll vor die Tür zu stellen."

Da fragt man sich doch ...

Wenn Herrn Sandhof das so klar ist, fragt man sich doch, warum in der Hauswurfsendung seines Betriebsamtes explizit die "Fremden" für Restmüll auf der Straße verantwortlich gemacht werden, während die "Kunden" angeblich "alles richtig" machen?
Und man fragt sich auch, warum nicht nach einer Lösung gesucht wird, die Verantwortlichen für die "wilden Müllkippen" zu finden? So wäre z.B. eine Regelung denkbar, nach der Sperrmüll nur mitgenommen wird, wenn deutlich lesbar Name, Anschrift und Telefonnummer daran befestigt sind. So könnten Anwohner bei absichtlichen oder unabsichtlichen Falschentsorgungen direkt kontaktiert und bei Nichtentfernen mit einem Bußgeld belegt werden.
Ich habe mich erneut mit einem Schreiben an Herrn Sandhof gewandt, um ihn darauf und auf den sozialen Aspekt der jetzigen Sperrmüllabfuhr noch einmal hinzuweisen. Darauf antwortet er:
"Bei genauem Licht betrachtet handelt es sich interessanterweise bei den bedürftigen und "armen" Menschen und deren Fahrzeugen immer wieder um dieselben, die den Sperrmüll durchsuchen. Zahlreiche Anrufe im Betriebsamt (...) lassen darauf schließen, dass logistische Hochleistungen im Vorfeld eine effiziente "Arbeitsplanung" ermöglichen. Tatsache ist auch, dass die mitgenommenen Möbelstücke im jeweiligen Heimatland (...) wieder gewinnbringend verkauft werden. Es ist also durchaus legitim, davon zu sprechen, dass sich mit dieser Art der "Möbelauslese" an anderer Stelle gutes Geld verdienen läßt und sie nicht ausschließlich sozialen Zwecken dient."
Während eine Möbelauslese die Norderstedter also 2 Millionen Euro im Jahr zusätzlich kosten würde, bringen Migranten die logistische Hochleistung zustande, den Sperrmüll nicht nur kostenfrei, sondern sogar wirtschaftlich zu entsorgen und nebenbei sogar Arbeitsplätze damit zu schaffen, die für Migranten in unserer Gesellschaft bekanntlich besonders schwer zu bekommen sind. Da fragt man sich doch: Was hat Herr Sandhof nur dagegen? Wieso ist das angeblich nicht sozial, eine Gebührenerhöhung aber schon? Und wieso der ironische, aggressive Ton gegen die Sperrmüllverwerter?

Meinungsmache gegen Migranten - verminderter Service - höhere Umweltbelastung

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass hier Meinungsmache gegen Migranten und Arme betrieben wird, um davon abzulenken, dass den NorderstedterInnen eine Gebührenerhöhung bei gleichzeitig verringertem Service und größerer Umweltbelastung aufs Auge gedrückt werden soll. Und eines ist gewiss: Norderstedt wird nicht sauberer, sondern unsozialer aussehen

Veröffentlicht in Soziales mit den Schlagworten Infoarchiv, Norderstedt