+ + + ARCHIVIERTER INHALT + + +

Diese Seite kommt aus unserem Archiv und enthält möglicherweise Informationen, die nicht mehr aktuell sind. Bitte beachten Sie das Veröffentlichungsdatum dieser Seite.

Sonntag, 23. November 2008, 1:00 Uhr

"Tue deinen Mund auf für die Stummen"

Vom Christentum zum Kommunismus: die konsequente Entscheidung des ehemaligen Pastorenehepaares Lechner

Renate Hagenlocher-Closius | 1969 wurde in Stuttgart erstmals ein Kirchentag "politisiert", indem Fragen in den Raum gestellt wurden wie: "Was würde Jesus sagen, wenn er heute auferstünde und Missstände in der Welt wie den Krieg in Vietnam, den Hunger in Biafra, Diktaturen wie die in Südafrika miterleben müsste?" Zwei, die damals als junge Theologen mit dabei waren, sind Edda und Karl-Helmut Lechner, die heute in Norderstedt leben. Beide entschieden sich einst bewusst aus Glaubensgründen für den Pastorenberuf, erkannten für sich aber nach Studium und ersten Berufsjahren, dass die "Ungerechtigkeit in der Welt" durch die Kirche eher gefestigt als beseitigt würde. Als Pastoren versuchten sie, "Christentum und Sozialismus" miteinander zu vereinbaren. Bis sie Mitte der 70er Jahre zu der Überzeugung gelangten: "Uns rettet kein höheres Wesen - für uns ist die Welt nicht mehr durch den Glauben an Gott erklärbar". Sie legten ihre Pastorenämter nieder, traten aus der Kirche aus und schlossen sich dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) an, dem - so Karl-Helmut Lechner - damals "erstaunlich viele Theologen angehörten".
Heute engagieren sich die beiden in der Partei DIE LINKE in Norderstedt und im Kreis Segeberg. "Wir waren und sind der Meinung, dass wir mit unseren sozialistischen Vorstellungen in einer anderen Organisation als der Kirche besser aufgehoben sind", begründen die Lechners ihren Schritt.
Wie kommt es, dass ehemals engagierte Christen sich enttäuscht von Kirche und Glauben abwenden und zu dieser Auffassung gelangen? Anhand eines umfangreichen Archivs von Fotos, Texten, Briefen und Zeitungsausschnitten zeichnen sie ihren Weg nach und geben Aufschluss über ein Kapitel jüngere Kirchengeschichte, die auf allen Seiten Fragen offenlässt.

Schon als Kind energisch, kompromisslos und radikal

Edda Lechner geborene Groth, 1939 als Bauerntochter in Rederstall in Dithmarschen geboren, war schon als Kind energisch, kompromisslos und "radikal", im Sinne von "an die Wurzel gehend": Sie gründete und leitete Jugendgruppen in ihrem Dorf und sie überraschte eines Tages ihre religiös nicht übermäßig engagierte Familie damit, immer das Tischgebet sprechen zu wollen.
Der Weg zum Theologiestudium war vorprogrammiert. 1967 wurde sie als erste Frau in der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche als Pastorin für ein "volles Programm" ordiniert, das sie in der Simeonkirche in Hamburg-Bramfeld antrat. "In Hamburg wurde ich erstmals konfrontiert mit der Studentenbewegung, ihrer Kritik am Vietnamkrieg, am Hunger in der Welt und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen", blickt Edda Lechner zurück. Die Anliegen der Protestbewegung konnte die Pastorin mit dem ausgeprägten Streben nach Gerechtigkeit in der Welt "in allen Teilen bejahen". Wegweisend war für sie wie für ihren Mann das Bibelwort "Tue Deinen Mund auf für die Stummen" (Sprüche 31.8).
An ihrer Gemeinde engagierte sie sich für "Rocker", versuchte "Demokratisierung" in der Weise zu verwirklichen, dass zum Beispiel Jugendgruppen selbst - und nicht Pastor oder Kirchenvorstand (KV) - über den Zweck des ihnen zur Verfügung stehenden Etats bestimmten. Sie stieß damit ebenso auf Widerstand des KV wie mit der Einführung von "Beat-Gottesdiensten" für Jugendliche oder dadurch, dass sie Themen wie Sexualität, Vietnamkrieg, Apartheid in Jugend- und Erwachsenengruppen behandelte.


"Die haben ein Bild von Marx an der Wand", hieß es in einem Bericht über die kirchenkritische Pastorin in einer renommierten Illustrierten 1970. Edda Groth (rechts im Bild) mit ihren Konfirmanden und Jugendlichen an der Simeon-Kirche in Hamburg-Bramfeld.

Moderne Theologie war wie eine geistige Befreiung

Auch ihr Mann nennt Frömmigkeit und Glauben als Motivation für das Theologiestudium. Seine Großeltern waren "erweckte Christen" aus dem fränkischen Altmühltal. Sein Vater ging als Missionar nach Papua-Neuguinea und nach Australien, wo Karl-Helmut Lechner 1944 geboren wurde. Nach der Rückkehr aus der Südsee nach Neuendettelsau in Franken, dem Besuch des renommierten Windsbacher Gymnasiums studierte er Theologie in Tübingen, Hamburg und Erlangen.
"Ich kam heraus aus der dörflich und pietistischen Enge, lernte Theologen wie Ernst Käsemann kennen und empfand die moderne Theologie wie eine geistige Befreiung", berichtet der ehemalige Pastor. Nach dem Examen arbeitete er mit Studenten an der Universität Hamburg und übernahm 1972 eine Pfarrstelle an der Norderstedter Christuskirche, wo er - ähnlich wie seine spätere Frau - bald auf Widerstände von Teilen des KV stieß, weil er "proletarische Jugendarbeit" betrieb, sich allerdings auch verstärkt der Arbeit mit Senioren widmete und sich um ihre Situation in den Norderstedter Altenheimen kümmerte.
Bis er - ebenso wie seine Frau - der "eigenen Identität und Glaubwürdigkeit wegen" sein Amt niederlegte: "Ich konnte nicht am Grab eines Menschen stehen und von Hoffnung und Auferstehung sprechen, wenn ich selbst nicht daran glaubte - das wäre verlogen gewesen", begründet er seine Entscheidung, die er - anders als ihm bekannte "Zweifler", die diesen Schritt nicht wagten - bis zur letzten Konsequenz vollzog.
Nach dem "Sturz aus dem goldenen Käfig" ins materielle Nichts absolvierten beide eine Schlosserausbildung und arbeiteten viele Jahre lang in diesem Beruf - Karl-Helmut Lechner bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2006 bei der Gabelstaplerfirma Jungheinrich, die letzten Jahre als Betriebsratsvorsitzender und Arbeitervertreter im Aufsichtsrat.

"Es gibt keine einheitliche Erklärung für die Welt"

Auch in den "anderen Organisationen", in denen sich die Lechners sich engagierten, galt und gilt für sie: "Es gibt keine einheitliche Welterklärung" und keine "reine Lehre". Und: "Was heute die richtige Antwort ist, kann morgen schon falsch sein". Wichtig sei: "Der Rahmen muss tolerant und pluralistisch gesteckt sein". Das gelte auch für DIE LINKE, in der die beiden - ebenso wie in der Kirche und anderswo - sich für "demokratische Strukturen" einsetzen, oftmals auch gegen den Widerstand aus den eigenen Reihen.
Wie sehen die beiden ehemaligen Pastoren heute ihr Verhältnis zur Kirche? "Es gibt wohl kaum ein Thema in der Politik, wie bei der Frage des Friedens, der Globalisierung, des Erhalts unserer Natur, bei dem wir nicht auf alte und neue Bekannte aus kirchlichen Kreisen treffen. Wir freuen uns immer auf eine Zusammenarbeit mit religiös gebundenen Menschen, wenn es um die fassbaren sozialen Interessen der Armen, Ausgebeuteten und Elenden dieser Welt geht", sagen sie.

Wir dokumentieren den Artikel mit freundlicher Genehmigung von "Die Nordelbische" und der Autorin Renate Hagenlocher-Closius.

Ordination von Helmut Lechner bei der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Kiel 1971. Pastorin Edda Groth (heute Lechner) ist dabei als Assistentin des Bischofs.

Veröffentlicht in Soziales mit den Schlagworten DIE LINKE, Jungheinrich, Norderstedt, Schleswig-Holstein