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Donnerstag, 5. Juni 2014, 14:31 Uhr
Über die Grenzen der Pflege
Drama in Norderstedt lässt Fragen offen
Das "Haus Hog´n Dor" in Norderstedt. Hier spielte sich am 17. Juni 2013 ein Drama ab (Foto: Infoarchiv)
Olaf Harning | Ein Verfahren vor dem Kieler Landgericht wirft Fragen über den Alltag in Pflegeheimen auf. Weil er unter den Klagelauten seines sterbenden Zimmergenossen litt, hatte ein 88jähriger Bewohner des Haus Hog´n Dor Mitte 2013 versucht, den Mann zu ersticken.
Karlheinz S. konnte das Stöhnen des schwer Krebskranken Günter B. nicht mehr ertragen- und er wollte es wohl auch nicht mehr: Selber psychisch auffällig, griff S. sich am 17. Juni 2013 gegen 20 Uhr ein Kissen und drückte es seinem Zimmergenossen fest aufs Gesicht. Günter B. konnte damals zwar im letzten Moment von einer 31jährigen Altenpflegerin gerettet werden, erlag aber rund zwei Wochen später seiner Krankheit.
Während sich das Landgericht nun bis Ende Mai mit der Frage beschäftigte, ob Karlheinz S. überhaupt schuldfähig ist und schließlich seine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verfügte, bleiben andere Fragen offen: Warum gelingt es einer professionellen Pflegeeinrichtung nicht, einen Sterbenden ausreichend mit Schmerzmitteln zu versorgen? Warum setzt man andere Bewohner dem geschilderten Todeskampf aus - und das offenbar ohne ausreichende psychologische Begleitung? Für den ehemaligen Kreisvorsitzenden der Segeberger Grünen, Jürgen Kaldewey, sind die geschilderten Vorfälle inakzeptabel: "In Norderstedt gab es zwei Opfer", stellt er in einer persönlichen Erklärung fest, "einmal den blinden Krebskranken im Endstadium, auf dessen Klagen offensichtlich nicht mit angemessener Palliativpflege reagiert wurde und zum anderen den 88jährigen hilfsbedürftigen Mann, der dem Leiden des sterbenskranken Zimmergenossen ausgesetzt worden war."
Haus Hog´n Dor
Das Haus Hog´n Dor ist eine Pflege- und Wohneinrichtung für Senioren mit insgesamt fast 300 Pflegeplätzen an drei Standorten. 1984 mit einer Einrichtung im Ortskern von Westerrönfeld gestartet, eröffnete die Besitzerfamilie Homfeldt 1994 (Norderstedt) und 2001 (Neumünster) weitere Häuser.
In Norderstedt bietet das Haus Hog´n Dor an der Ecke Ulzburger Straße/Rathausallee zur Zeit 84 Plätze, und wurde schon ein Jahr nach seiner Eröffnung um das Angebot der Gerontopsychiatrie erweitert. Einige BewohnerInnen leben hier bereits seit 18 Jahren, fast so lange also, wie die Einrichtung besteht.
Nach einer Befragung des in seiner Aussagekraft allerdings umstrittenen "Pflege-TÜVs" schnitt der Standort Norderstedt Anfang 2014 leicht unterdurchschnittlich ab, erhielt "nur" die Note 1,7. Während man in Sachen Unterbringung, Betreuung und dem Umgang mit Demenzkranken jeweils eine glatte 1,0 erreichte, wurden Pflege und medizinische Versorgung der Bewohner nur mit 2,5 (befriedigend) bewertet. Dabei ging es vor allem um eine sehr strenge Auslegung von Fragen der Medikamenten-Vergabe.
Martina Homfeldt, Geschäftsführerin des Haus Hog´n Dor, und 1999 auch als Gesellschafterin in den elterlichen Betrieb eingestiegen, verwahrt sich gegen solche Vorwürfe: "Von diesen Äußerungen, die nichts mit unserer Einrichtung, der Situation und den beteiligten Personen zu tun haben, möchte ich mich ganz klar distanzieren", sagt sie - "weil Herr Kaldewey offensichtlich nichts darüber weiß, nie in unserer Einrichtung war und keine der beteiligten Pesonen kennt."
Der Sterbeprozess von Menschen sei in einem Pflegeheim zwar kein prägender, aber doch ein zum Alltag gehörender Teil. Die Palliativpflege von Günter B. ist ihren Angaben zufolge nach aktuellsten Standarts erfolgt und habe unter ständiger ärztlicher Kontrolle gestanden. Dass auch das beste Schmerzmanagement bei Krebserkrankungen im Endstadium nicht immer die gewünschten Ergebnisse bringe, sei der andere Teil der Wahrheit. Wie wohl die meisten anderen Pflegeheime auch, biete man in den Einrichtungen des Haus Hog´n Dor Ein-, aber eben auch Zweibettzimmer an, um die Nachfrage nach Heimplätzen einigermaßen befriedigen zu können. Homfeldt: "Wenn jemand in ein Zweibettzimmer einzieht, schließt er einen entsprechenden Vertrag mit uns ab und weiß auch, zu wem er zieht."
Im aktuellen Fall, so Homfeldt weiter, seien beide Bewohner erst kurz vor der Eskalation im Norderstedter Pflegeheim einzogen. Der später verstorbene B. habe sich zu diesem Zeitpunkt "noch nicht im Sterbeprozess befunden." Wenn ein Bewohner in die "finale Phase" eintritt, bringe man den betroffenen Bettnachbarn in einem Ausweichzimmer unter - "natürlich nur, wenn er das will", betont die Geschäftsführerin. Änderungen hat es im Haus Hog´n Dor nach dem "Fall Karlheinz S." nicht gegeben, die Handlungsweise betreffs psychischer Erkrankungen, Palliativpflege und der Belegung von Zweibettzimmern sei "auch schon vor diesem Vorfall klar im Sinne aller Beteiligten geregelt" gewesen.
Für Jürgen Kaldewey birgt das bestehende Pflegeheim-System hingegen ein grundsätzliches Problem: Als seine Schwiegermutter 2006 einmal kurzzeitig in einer (anderen) Pflegeeinrichtung unterkam, habe die schon nach einer Woche "in der von Schreien erfüllten, dunklen Hölle" des Heimes so abgebaut, dass sie kaum noch sprechen konnte und völlig desorientiert wirkte. "Nach persönlicher Zuwendung und Absetzung fast aller Medikamente hat sie sich wieder erholt", erinnert sich Kaldewey, "da war sie 87." Heute ist sie 94 und lebt in der "Rund-um-die-Uhr-Pflege" ihrer Familie.
Alleine: Dieser 24-Stunden-Einsatz ist nur den wenigsten Angehörigen möglich, sofern es in einer zunehmend kinderarmen Gesellschaft überhaupt jüngere Angehörige gibt. Man wird also weiterhin auf Pflegeeinrichtungen angewiesen sein und eher diskutieren müssen, welche Kosten man akzeptiert, um ältere Menschen komfortabel und in jeder Lebensphase würdig unterzubringen.
Ein Kommentar zu diesem Artikel
06.07.2014, 18:28 Uhr Jürgen Kaldewey: Wo ist die Antwort, Frau Homfeldt?
Eine einfache Frage: Warum ist der 88jährige trotz Androhung, sich umzubringen, nicht aus der unerträglichen Situation, das Leiden und Sterben seines Mitbewohners Tag und Nacht ertragen zu müssen, befreit worden? Er und seine Angehörigen konnten bei Vertragsabschluss nicht erahnen, dass sich eine solche Situation ergeben würde. In diesem "Heim" wurde unprofessionell, brutal und menschenunwürdig gehandelt - mit den bekanntgewordenen Folgen.